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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod
Autoren: Meša Selimović
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Haus Davids. Und
sprich: Gekommen ist die Wahrheit. Gekommen ist die Stunde. Denn jeder kreißt
auf seiner Bahn bis zu der Frist, die ihm gesetzt ist. Gott schafft euch in den
Leibern eurer Mütter, er schafft euch um, gibt euch neue Gestalt im dreifach
undurchdringlichen Dunkel. Trauert nicht, freut euch auf das Paradies, das euch
verheißen ist. O meine Knechte, keine Furcht gibt es heute für euch, ihr werdet
nicht bekümmert sein. O Seele, sei getrost, kehr zufrieden heim zu deinem Herrn,
denn er ist zufrieden mit dir. Geh ein in mein Volk, geh ein in mein Paradies.
    So sprach ich unzählige Male.
    Jetzt aber war ich nicht sicher, daß
ich eben dies dem Alten sagen solle, der auf mich wartete. Nicht seinetwegen,
sondern meinetwegen. Zum erstenmal – wie oft würde ich in diesen Tagen noch
sagen: zum erstenmal? – sah mir der Tod nicht so einfach aus, wie ich geglaubt
und wie ich andere glauben gemacht hatte. Es geschah mir, daß ich etwas
Schreckliches träumte. Ich stehe auf leerer Fläche, über meinem toten Bruder,
die mit einem blauen Tuch bedeckte Bahre steht mir langgestreckt zu Füßen, in
weitem, fernem Kreis um mich herum – Menschen. Keinen sehe ich, keinen kenne
ich, ich weiß nur, sie haben den Kreis um uns geschlossen und mich allein gelassen,
in quälender Stille über dem Toten. Über dem Toten, dem ich nicht sagen kann:
Warum erbebt dein Herz? Denn auch mein Herz bebt, mich schreckt das dumpfe
Schweigen. Mich schmerzt das Geheimnis, dessen Sinn ich nicht sehe. Es hat
einen Sinn, sage ich, um mich gegen den Schrecken zu wehren, aber ich kann und
kann ihn nicht finden. Steh auf, sage ich, steh auf. Doch er liegt, verhüllt
von Finsternis, im Dämmer des Vergehens, in grünlichem Dunkel, wie unter
Wasser, ertrunken in unbekannten Räumen.
    Wie sollte ich jetzt einem
Sterbenden sagen: Geh fügsam auf den Wegen deines Herrn. Da mich doch ein
Schauer packte ob dieser verborgenen Wege, von denen mein winziges Wissen keine
Ahnung hatte.
    Ich glaube an den Jüngsten Tag und
an das Ewige Leben, aber ich habe angefangen, auch an das Schrecknis des
Sterbens, an die Furcht vor der undurchdringlichen Schwärze zu glauben.
    Nichts hatte ich in mir entschieden,
als sie mich in eines der Zimmer führten, ein junges Mädchen ging vor mir her,
ich folgte ihr mit gesenkten Lidern, damit ich ihr Gesicht nicht sähe, damit
ich nicht abgelenkt würde. Ich werde dich belügen, Alter. Gott wird mir's
verzeihen, ich werde sagen, was du erwartest, nicht das, was ich verwirrt
denke.
    Hier war er nicht. Auch ohne den
Blick zu heben, bemerkte ich, daß im Zimmer nicht jener drückende Krankengeruch
lag, der sich, wenn einer lange bettlägrig ist, durch nichts mehr vertreiben
läßt, nicht durch Säubern, nicht durch Lüften, nicht durch Räuchern.
    Als ich aufblickte, den Mann
suchend, der so lange krank war und nicht nach dem Tode roch, sah ich auf der
Wandbank eine schöne Frau, die mehr, als es gut sein konnte, ans Leben denken
ließ.
    Es ist vielleicht seltsam, das zu
sagen, doch es traf wirklich zu: Mir war unbehaglich zumute. Gründe konnte es
genug geben. Ich war, allein mit mir, bedrückt von finsteren Gedanken, darauf
vorbereitet gewesen, einen alten Mann, einen Sterbenden zu sehen, und fand mich
nun vor seiner Tochter (ich hatte sie nie gesehen, aber ich wußte, sie war
es!). Ich bin ungeschickt im Gespräch mit Frauen, erst recht mit Frauen ihrer
Schönheit und ihrer Jahre. Um die dreißig, meinte ich. Junge Mädchen schmücken
sich in Gedanken das Leben aus und glauben an Worte. Alte Frauen fürchten sich
vor dem Tod und hören seufzend vom Paradies. Solche wie diese können genau
abschätzen, was sie verlieren und bekommen, und sie haben immer ihre
Beweggründe, die sonderbar sein können, aber selten naiv sind. Ihre reifen
Augen sind frei, auch wenn sie zu Boden blicken; sie bleiben unangenehm offen,
auch wenn die Wimpern sie verdecken. Das Unangenehmste aber: Uns ist bewußt,
daß sie mehr wissen, als sie zeigen, und daß sie uns nach ihren eigenen,
ungewöhnlichen Maßen messen, die wir schwerlich begreifen. Ihre Neugier, die
nicht zu verhehlen ist, die hervorblickt, auch wenn sie verborgen werden soll,
wird durch ihre Unantastbarkeit beschützt, sofern sie es nur wollen. Uns aber
schützt vor ihnen nichts. Von ihrer Kraft überzeugt, die sie nicht nutzen, die
sie wie einen Säbel in der Scheide lassen, wobei sie aber die Hand immer am
Knauf haben, erblicken sie in uns einen möglichen Sklaven oder ein
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