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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod
Autoren: Meša Selimović
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an, denn das ist
meine Zeit, die einzige, die mich betrifft. Mein Bruder lag schon zehn Tage
eingesperrt in der Festung.
    Damals, vor dem Georgstag, ging ich
in der Abenddämmerung durch die Straßen, voll Bitternis und Unruhe. Doch nach
außen gab ich mich ruhig, daran gewöhnt man sich, mein Schritt verriet keine
Aufregung, der Körper dachte nur an dieses Verbergen und ließ mir die Freiheit,
im Dunkel des Nachdenkens, das keiner sieht, so zu sein, wie ich wollte. Am
liebsten wäre ich aus der Stadt hinausgewandert, zu dieser stillen Stunde des
sinkenden Abends, damit die Nacht mich allein fände, aber eine Aufgabe führte
mich nach der anderen Seite, unter die Menschen. Ich vertrat den kranken Hafiz
Muhamed; der alte Džanić, unser Wohltäter, hatte ihn rufen lassen. Ich
wußte, er war seit Monaten krank, vielleicht lag er im Sterben und wollte
deshalb den Derwisch sehen.Und ich wußte, sein Schwiegersohn war der Kadi Ajni [7] Effendi, der den Befehl unterschrieben hatte, meinen Bruder einzusperren.
Daher übernahm ich in einer unbestimmten Hoffnung gern diesen Weg.
    Während sie mich durch den Hof,
durch das Haus führten, verhielt ich mich nach meiner Gewohnheit, nichts zu
sehen, was mich nicht betraf, denn so war ich mir selbst näher. In einem langen
Vorraum allein gelassen, wartete ich darauf, daß die Nachricht von meinem
Eintreffen an den gehörigen Ort gelange; ich lauschte in die Stille, die
vollkommen war, als lebte niemand in diesem großen Gebäude, als bewegte sich
niemand in den Gängen und den Zimmern. Im Schweigen des gedämpften Lebens, in
der Gegenwart des Sterbenden, der hier noch irgendwo atmete, in der
Lautlosigkeit der von weichen Matten geschluckten Schritte und der leisen,
flüsternd gewechselten Worte knisterte kaum hörbar das alte Gebälk der Fenster
und Decken. Während ich zusah, wie der Abend langsam mit seidigen Schatten das
Haus umschloß und mit dem letzten Widerschein des Tageslichts auf den Scheiben
zitterte, dachte ich an den alten Mann und an das, was ich ihm bei unserer
letzten Begegnung sagen würde. Nicht nur einmal hatte ich mit Kranken
gesprochen, nicht nur einmal hatte ich Sterbende zu dem großen Weg bereitet.
Die Erfahrung hatte mich, sofern Erfahrung dafür nötig ist, überzeugt, daß
jeder Furcht vor dem empfindet, was ihn erwartet, vor dem Unbekannten, das noch
unentschlüsselt im ersterbenden Herzen pocht.
    So sagte ich etwa tröstend:
    Der Tod ist sicher und gewiß, das
einzige, wovon wir wissen, daß es uns erreichen wird. Es gibt keine Ausnahme,
keine Überraschung, alle Wege führen zu ihm, alles, was wir tun, ist
Vorbereitung auf ihn, eine Vorbereitung, die unsere Stirn in den Staub stößt,
uns ihm näher zwingt, immer nur näher, nie von ihm fort. Wenn er aber sicher
und gewiß ist, warum wundern wir uns dann, wenn er kommt? Wenn dieses Leben nur
ein kurzer Durchgang ist, der nur eine Stunde, einen Tag dauert, warum kämpfen
wir dann, ihn um noch einen Tag, noch eine Stunde zu verlängern? Das irdische
Leben ist trügerisch, die Ewigkeit ist besser.
    So sagte ich:
    Warum erbeben eure Herzen vor Angst,
wenn sich in Todesqualen eure Glieder winden? Der Tod ist ein Umzug von einem
Haus in ein anderes. Er ist kein Vergehen, sondern eine zweite Geburt. So wie
die Eischale platzt, wenn sich das Küken voll entwickelt hat, so kommt die
Zeit, da sich Seele und Körper trennen. Der Tod ist etwas Notwendiges in der
Unausweichlichkeit des Hinübergehens in eine andere Welt, in der der Mensch
erst seinen vollen Aufstieg erfährt.
    So sagte ich:
    Der Tod ist Untergang des Stoffes,
nicht der Seele.
    So sagte ich:
    Der Tod ist eine Veränderung des
Zustands. Die Seele beginnt allein zu leben. Solange sie an den Körper gebunden
war, hatte sie sie mit der Hand gefühlt, mit dem Auge geschaut, mit dem Ohr
gehört, aber das Wesen der Dinge hatte sie von selbst gewußt.
    So sagte ich:
    Am Tage
meines Todes, wenn sie meinen Sarg tragen,
    glaube nicht,
daß ich Schmerz um diese Welt empfinden werde.
    Weine nicht
und sag nicht: Jammer, Jammer.
    Wenn Milch
verdirbt, ist es ein größerer Jammer.
    Wenn du
auch siehst, sie legen mich ins Grab, ich werde nicht vergehen.
    Vergehen
denn Sonne und Mond, wenn sie unter den Himmelsrand sich neigen?
    Du meinst,
es sei Tod, doch es ist Geburt.
    Das Grab
scheint dir ein Gefängnis, die Seele aber wird hier frei.
    Welches
Korn keimt nicht, wenn es in die Erde gelangt?
    Warum also
zweifelst du am Menschenkorn?
    So sage ich:
    Sei dankbar,
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