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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod
Autoren: Meša Selimović
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Menschen mit guten Worten,
wenn sie kamen, obgleich es ihrer weniger waren als die Nöte, viel weniger
waren als die Sünden. Ich bin nicht hochmütig wegen meines Dienstes, doch es
war wirklich ein ganz und aufrichtig geleisteter Dienst am Glauben. Ich hielt
es für eine Pflicht und ein Glück, mich selbst und andere vor Sünden zu
bewahren. Auch mich, warum soll ich es verbergen? Sündhafte Gedanken sind wie
der Wind – wer kann sie aufhalten? Ich glaube auch nicht, daß es ein großes
Übel ist. Worin bestünde die Frömmigkeit, wenn es keine Versuchung gäbe, der
man widersteht? Der Mensch ist nicht Gott, und seine Kraft liegt gerade darin,
daß er gegen seine Natur kämpft, so dachte ich, und wenn da nichts zu bekämpfen
ist, wo wäre dann sein Verdienst? Jetzt denke ich anders, doch darüber werde
ich sprechen, wenn es an die Reihe kommt. Es bleibt noch Zeit für alles.
    Auf meinem Knie liegt das Papier und
wartet still darauf, meine Last aufzunehmen, ohne mich freilich von ihr zu
befreien und ohne sie selbst zu fühlen; vor mir ist eine lange Nacht ohne
Schlaf, noch manche lange Nacht, mit allem werde ich zurechtkommen, alles, was
ich tun muß, werde ich schaffen: mich anklagen und mich verteidigen; der Eile
bedarf es nicht, doch sehe ich, daß es Dinge gibt, über die ich jetzt schreiben
kann und später vielleicht nie mehr. Wenn es die rechte Zeit ist, wenn der
Wunsch sich regt, von anderen Dingen zu sprechen, kommen auch sie an die Reihe.
Ich fühle sie angehäuft in den Speichern meines Gehirns, eines zieht das andere
nach, denn sie hängen zusammen, kein Ding besteht für sich, und wiederum
herrscht eine gewisse Ordnung im Gedränge, und immer springt, ich weiß nicht
wie, eines unter den anderen hervor und strebt zum Licht, damit es sich zeige,
damit es mir einen Schlag versetze oder mich tröste. Manchmal drängen sich die
Dinge ungeduldig, als fürchteten sie, ungesagt zu bleiben. Langsam, für alles
ist Zeit, ich habe sie mir selbst gegeben; und zum Gerichthalten gehören
Gegenüberstellungen und Zeugenaussagen, man darf sie nicht übergehen, und am
Ende werde ich das Urteil über mich selbst fällen können, denn nur um mich geht
es, um keinen sonst, nur um mich. Die anderen Menschen sind mir plötzlich ein
Geheimnis geworden, und ich bin es den anderen geworden, wir stehen einander
gegenüber, blicken uns verwundert an, erkennen einander nicht, verstehen
einander nicht mehr.
    Zurück zu mir und zur Tekieh. Ich
habe sie geliebt und liebe sie noch. Still ist sie, rein, vertraut, duftet nach
Balsamkraut im Sommer, nach Wind und frischem, kaltem Schnee im Winter: ich
liebe sie auch, weil sie meinetwegen bekannt geworden ist und weil sie meine
Geheimnisse kennt, die ich keinem anvertraut, die ich vor mir selbst verborgen
habe. Warm ist sie, voll Frieden, Tauben gurren auf dem Dach am frühen Morgen,
Regen fällt trommelnd auf die Dachziegel; auch jetzt regnet es, beharrlich,
lang, obgleich es Sommer ist, das Wasser sammelt sich in den hölzernen Rinnen
und fließt ab in die Nacht, die sich unheildrohend auf die Erde gelegt hat;
mich faßt ein Bangen, daß sie niemals weichen werde, und ich hoffe, daß die
Sonne bald aufgeht; ich liebe die Tekieh, weil ich hier beschützt bin vom Frieden
meiner beiden Zimmer, in denen ich allein sein kann, wenn ich von den Menschen
ausruhe.
    Das Flüßchen hat manches mit mir
gemein, schäumend und scheu ist es zuweilen, öfters aber still, kaum zu
vernehmen. Unrecht war mir's, als sie es unterhalb der Tekieh stauten, es in
einen Graben pferchten, damit es gefügig und nützlich sei, damit es ein Mühlrad
treibe, und ich freute mich, als der Fluß anschwoll, den Damm zerstörte und
wieder frei dahinfloß. Und dabei wußte ich, daß nur gezähmtes Wasser das Korn
mahlt.
    Jetzt aber melden sich die Tauben
auf dem Boden mit leisem Gurren, der Regen strömt noch immer, seit Tagen schon,
sie können nicht übers Vordach hinaus; sie kündigen den Tag an, der noch auf
sich warten läßt. Die Hand, mit der ich die Feder halte, ist erstarrt. Die
Kerze prasselt ein wenig und sprüht, sich gegen den Tod wehrend, kleine
Funken, ich aber schaue auf die langen Reihen von Buchstaben, diese Zeichen für
Gedanken, und ich weiß nicht: Habe ich sie getötet oder belebt?

2
    Wollte Gott für jedes begangene Unrecht strafen, so bliebe auf der Erde kein einziges lebendiges Wesen.
    Alles begann vor zwei Monaten und drei Tagen –
dies sagt, ich rechne die Zeit von jener Nacht zum Georgstag
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