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Der Bernsteinring: Roman

Der Bernsteinring: Roman

Titel: Der Bernsteinring: Roman
Autoren: Andrea Schacht
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deine Eltern kommen heute auch noch vorbei. Wir haben sie gestern Abend noch erreicht.«
    »Oh, gut. Mama Sophia wird sich um alles kümmern. Den Ärzten steht was bevor!«
    Rose schloss die Augen wieder und schien einzuschlafen. Dann aber riss sie sie noch einmal auf.
    »Anita, mir ist noch etwas eingefallen.«
    »Was?«
    »An dem Abend, als Julian bei mir war, hat er mir etwas gegeben. Ein Heft, das ich unbedingt lesen sollte. Ich habe damals keine Zeit dafür gehabt, und als wir von Australien zurückkamen, habe ich nicht mehr daran gedacht. Weil...«
    »Wo sind diese Unterlagen?«
    »In meiner Wohnung. Werden wohl irgendwo zwischen den Zeitungen liegen. Hoffentlich sind sie nicht im Altpapier gelandet.«
    »Ich fahre gleich hin und suche sie.«
    »Danke, Anita«, murmelte sie, und dann schlief sie wirklich ein. Cilly und ich blieben noch bei ihr sitzen, und ich verließ sie erst, als Sophia und ihr Mann eintrafen.
     
    In Roses Wohnung durchforstete ich alle möglichen Ecken und Winkel, um die nicht näher beschriebene Unterlage zu finden. Und dann entdeckte ich sie auf dem Schreibtisch, unter den Vordrucken für die Umsatzsteuererklärung.
    Es war ein marmoriertes Heft, vergilbt und mit Stockflecken bedeckt. Neugierig schlug ich es auf. Einige loseBlätter fielen mir entgegen. Handgeschriebene Zettel und einige Zeitungsausschnitte schienen es zu sein. Ich sammelte sie sorgfältig auf und steckte sie hinten in das Büchlein. Dann las ich die ersten Zeilen.
    Und hielt den Atem an.
     
    Tagebuch von Marie-Anna de Kerjean
  Februar 1810
     
    stand da in zierlicher, ein wenig verschnörkelter Schrift.
    Als ich mich niedersetzte, um in den eng beschriebenen Seiten zu lesen, fielen mir die ersten Worte auf, und ich schlug energisch das Heft wieder zu.
    Das durfte ich nicht alleine lesen.
    Das ging Rose und Cilly ebenfalls an, denn die ersten Sätze lauteten: »Heute bin ich im Haushalt der Familie Raabe eingetroffen. Das Mädchen Graciella hat mich erfreulich herzlich begrüßt, und auch die Dame das Hauses nahm sich meiner freundlich an. Diese Cousine Rosemarie hingegen...«
    Graciella Raabe, vielleicht später die Graciella Coloman. Julians Ururgroßmutter.
    Ich wollte Familienforschung betreiben, und hier war ein ungewöhnlicher Einstieg!
    Und Marie-Anne und Rosemarie...
    Nachdenklich nahm ich einen Stift zur Hand und schrieb auf einen Block, der auf dem Schreibtisch lag, den Schluss der Geschichte von Anna, der Stiftsschreiberin und ihrer Freundin Rosa.

36. Kapitel
 
 Sphärentanz
    Es wurde dunkel um Anna, doch Hrabanus’ Gesicht war das Letzte, was sie mit ihren schwindenden Sinnen wahrnehmen konnte. Dann begann ihre Wanderung durch die Unendlichkeit, ohne Angst, wissend, dass sie sie finden würde – die himmlischen Sphären, die die Welt umspannten. Nicht das Fegefeuer wartete auf sie, nicht die Qualen der Hölle, sondern sie bewegte sich durch die Dunkelheit auf die fernen Lichter zu. Leise, aber immer deutlicher nahm sie eine himmlische Musik wahr, und begleitet von den Engelschören durchwanderte sie die Sphären. Nach und nach verblich dabei alles, was sie in ihrem Erdendasein erlebt hatte. In der silbernen Sphäre des wandelbaren Mondes vergaß sie Horsel, in der goldenen Sphäre der strahlenden Sonne verschwamm die heitere Valeska. Viele Erinnerungen an ihre Freundin Rosa verlor sie in der rosigen Sphäre der Venus, und in der gelbroten Sphäre des Merkur erlosch der Gedanke an den Sänger Julius, und Marcel vergaß sie in der roten Sphäre des Mars. Doch in der purpurnen Sphäre des Jupiter verweilte sie lange, denn die väterliche Liebe wollte sie nicht missen. Schließlich aber musste sie hinauf in die dunkelblaue, ferne Sphäre des Saturn, und hier vergaß sie auch Falkomar.
    Sie wandelte lange, und es lösten sich Wehmut, Schmerzen und Trauer auf. Das tiefste Gefühl jedoch, das sie empfunden hatte, war bei ihr geblieben – ihre Liebe vergaß sie nie, und die Sehnsucht blieb immer bei ihr.
    Sie tanzte zur Sphärenmusik mit den Sternen, doch dann war die Konstellation der Himmelslichter plötzlich so verlockend, dass sie nicht widerstehen konnte.
     
    Und im Jahre 1783, kurz bevor die französische Nation in Flammen aufging, wurde in einem kleinen Schloss in der Bretagne zur übergroßen Freude der Eltern eine Tochter mit goldenen Haaren geboren. Und sie nannten sie Marie-Anna.
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