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Der Benedict Clan 05 - Fremder Feind

Der Benedict Clan 05 - Fremder Feind

Titel: Der Benedict Clan 05 - Fremder Feind
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gleichen.
    Nicht ganz ein Jahr darauf hatte Chloes Mutter vom Küchenfenster aus gesehen, wie eine Meute wilder Hunde über ein Kleinkind herfiel. Sie war schreiend aus dem Haus gelaufen und hatte versucht, die ausgemergelten Tiere mit einem Besen zu verscheuchen. Ein Polizist, der an den Ort des Geschehens kam, kümmerte sich überhaupt nicht um das verletzte kleine Mädchen, sondern griff Chloes Mutter an, weil die ohne ihre Burqa aus dem Haus gegangen war. Als er begann, mit seinem Stock auf sie einzuschlagen, kamen zwei weitere Taliban des Weges und beschimpften die ausländische Hexe mit den himmelblauen Augen, weil sie es gewagt hatte, die Gesetze zu missachten. Chloe griff sich ihre eigene Burqa und rannte auf die Straße, um ihrer Mutter zu helfen, wurde jedoch von anderen Passanten festgehalten. Ein erster Stein wurde geworfen, dem immer mehr Steine folgten. Als alles vorüber war, löste sich die aufgebrachte Menge auf und ließ Chloe allein mit dem Leichnam ihrer Mutter zurück, die zusammengekrümmt an der Hauswand lag.
    Chloe fühlte sich, als hätte jemand ihren Kopf in einen Schraubstock gespannt. Sie wurde von Migräneanfällen heimgesucht, die so entsetzlich waren, dass sie glaubte, der Schmerz könne nur noch dadurch aufhören, dass man ihr den Kopf abschlug. Sie verbrachte unzählige Stunden damit, einfach nur in ihrem abgedunkelten Raum zu liegen. Manchmal schlief sie, manchmal starrte sie nur an die Decke, ohne wirklich etwas zu sehen. Doch die meiste Zeit spähte sie durch das kleine Loch, das sie in die schwarze Farbe an ihrem Fenster gekratzt hatte, und betrachtete die karge Landschaft, die aus ausgedörrter Erde, vor Trockenheit gräulich wirkender Vegetation, ockergelben Häusern und den fernen, im bläulichen Dunst liegenden Bergen bestand.
    Sie verließ nicht mehr das weitläufige Haus, weil es nichts gab, wohin sie gehen wollte. Sie setzte sich auch nur selten zu den anderen in den Gemeinschaftsraum, da sie nicht wusste, worüber sie mit ihnen reden sollte. Sie verlor Gewicht, und sie ließ ihr Haar lang und strähnig wachsen, um möglichen Repressalien aus dem Weg zu gehen. Manchmal, wenn sie nachts wach lag, glaubte sie, dass Selbstmord der einzige Ausweg aus ihrer Lage war.
    Treena entpuppte sich als ihre Rettung, die schwächliche Treena mit den großen Augen und der wispernden Stimme. Treena, die sich unablässig um ihre Kinder kümmern musste, weil eines zahnte, ein anderes laufen lernte und wieder ein anderes krank war. Treena, die hinter ihrer unterwürfigen Fassade den Mut einer Löwin verbarg. Sie hatte Chloe im Flüsterton von der RAWA erzählt, der „Revolutionary Association of the Women of Afghanistan", einer Gruppe afghanischer Frauen, die sich ursprünglich zusammengeschlossen hatten, um die Sowjets aus dem Land zu vertreiben, und die nun die Erlasse der Taliban umgingen. Die RAWA war zusammen mit dem Vorrücken der Taliban nach Hazaristan vorgedrungen. Die Organisation benötigte dringend Lehrerinnen für all die Mädchen und jungen Frauen, denen jegliche Schulbildung vorenthalten wurde. Ohne Wissen würden sie für immer dazu verdammt sein, den Männern zu dienen. Chloes Mutter war Lehrerin gewesen, warum sollte sie nicht in ihre Fußstapfen treten?
    Chloe überlegte, wie lange es her sein mochte, dass sie zum ersten Mal etwas über diese mutigen Frauen gehört hatte. Fünf Jahre? Sechs Jahre oder noch länger? Sie konnte sich nicht mehr erinnern. Zeit verlor weitestgehend an Bedeutung, wenn es nichts gab, was einen Tag vom anderen und ein Jahr vom anderen unterschied. Ihr schien es fast so, als würde sie schon seit einer Ewigkeit diesen heimlichen und riskanten Unterricht erteilen, bei dem sie sich in die Häuser anderer Familien begab, um ein oder zwei Stunden lang Wissen weiterzugeben. Dieser Unterricht, das Lächeln der Mädchen, ihr Wissensdurst, die enge Freundschaft zu diesen Frauen, die sich gegen die Taliban zur Wehr setzten - das waren die Dinge, die ihr halfen, nicht den Verstand zu verlieren. Manchmal kam es ihr so vor, als sei es ihre Bestimmung, als habe das Schicksal sie an diesen Ort gebracht, zu einer Zeit, da sich das Wissen, das sie aus der Schule und von ihrer Mutter hatte, als so nützlich wie nie zuvor erwies. Sie wurde hier gebraucht, hier hatte ihr Leben einen Sinn. Was konnte ihr im Vergleich dazu ein Fremder bieten, der sie außer Landes bringen wollte?
    Die Anwesenheit des Amerikaners und auch seine draufgängerische Weise, in der er mit ihr
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