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Der Beethoven-Fluch

Der Beethoven-Fluch

Titel: Der Beethoven-Fluch
Autoren: M.j. Rose
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das Gejaule des Luftalarms. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass es sich bloß um eine Sinnestäuschung handelte. Er hätte sie nur zu gern unterdrückt, diese Erinnerungen, die ihn permanent überfielen. Aber was hätte ihn dann noch motiviert, um seinen Plan auch in die Tat umzusetzen? Sein Gedächtnis war ihm ein Rätsel. Wieso entsann er sich an manche Momente, wurde regelrecht von ihnen verfolgt, während er sich an andere ums Verrecken nicht erinnern konnte, mochte er sich auch noch so verzweifelt das Hirn zermartern? Zum Beispiel daran, wie das Haar seiner Frau geduftet hatte.
    “Wir befinden uns jetzt direkt unter dem berühmtesten Konzertsaal Wiens”, betonte Wassong, “dem Musikverein.” Er setzte seine Brille ab und polierte die Gläser mit seinem dunkelblauen Halstuch. In seinem ersten Artikel über den österreichischen Kriminellen hatte David diese Angewohnheit zum Anlass genommen, ihn zu charakterisieren.
    Nachdem er die Brille wieder aufgesetzt hatte, zeigte Wassong auf eine Wand, die etliche Risse aufwies. “Dieser Bereich stößt an einen uralten Schacht, und der führt rauf in das Kellergewölbe unter dem Konzertgebäude. Die Töne fließen durch ein Rohrsystem, das früher mal zu einer alten Heizungsanlage gehörte.”
    “Und Sie sind sicher, dass die ganze Gegend hier nie aufgezeichnet wurde?”
    Ein dissonantes Crescendo aus Celli, Hörnern, Flöten und Oboen bemühte sich vergebens um einen harmonischen Abschluss. Ein einzelnes Instrument klang deutlich aus dem Getöse heraus, ein weiteres kam hinzu, dann noch eins, bis alle zusammen in ein disharmonisches Chaos mündeten – etwa so, wie Davids Hirn mitunter völlig unvermutet unterschiedliche Erinnerungen wie Bildfetzen durcheinanderwürfelte. Das Gesicht seiner Frau, grauenvoll zugerichtet und bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, ein blutiger Brei. Dann Liesel bei einem gemütlichen Nachmittag am Strand, Jahre zuvor; ihr Lachen ob seines kläglichen Versuchs, einen Witz zum Besten zu geben. Sein fünfjähriger Sohn Isaac, wie er unbedingt das Fahrrad, das er gerade erst geschenkt bekommen hatte, mit ins Bett nehmen wollte. Dann der blutige Stumpf an der Stelle, wo vorher Isaacs Bein gewesen war. Und so weiter. David zählte jede Erinnerung, als könne er damit etwas beweisen. Nur was? Dass er einmal ein normaler, rational denkender Mensch gewesen war, der etwas machen wollte aus seinem Leben? Oder dass es nachvollziehbare und ganz konkrete Gründe gab für das, was er sich vorgenommen hatte?
    Hans Wassong dozierte derweil ungerührt weiter. “Seit dem Mittelalter wurden diese Gewölbe hier unten zumeist als Grabkammern benutzt. Dann hat man sie im 18. Jahrhundert unter Kaiser Josef II. aus hygienischen Gründen versiegelt. Die Gräber vorher noch zu kartografieren, daran hatte niemand ein Interesse.”
    “Das Ding da sieht aber nicht gerade nach dem 18. Jahrhundert aus.” David wies auf einen zerknautschten, olivgrünen Eimer, der halb unter Schutt begraben in einer Ecke der Grotte lag. Schon als Anfänger hatte er gelernt: Es waren solche Kleinigkeiten, die einem Journalisten die Wahrheit verrieten, wenn die Menschen logen.
    “Während des Zweiten Weltkriegs hat man vonseiten der Regierung einige Sektoren wieder geöffnet und als Luftschutzbunker genutzt. Als die darüberliegenden Gebäude Bombentreffer abbekamen, stürzten einige der Gewölbe ein. Hunderte von Menschen wurden verschüttet; unsere unterirdische Stadt wurde aus Sicherheitsgründen erneut geschlossen. Allerdings fühlt sich so mancher von uns hier unten sicherer als dort oben, was?”
    David überhörte den augenzwinkernden, anbiedernden Unterton in Wassongs Stimme. “Aber es gibt doch sicher welche, die von dieser Unterwelt wissen?”
    “Die gab es, freilich, aber wie’s aussieht, ist hier schon seit Jahrzehnten keiner mehr gewesen. Da können Sie sich getrost auf mich verlassen, David. Und bezahlen dürfen Sie mich auch. So war’s ja schließlich vereinbart.”
    Zehn Jahre zuvor, als David an einem Artikel über illegale Waffengeschäfte in Osteuropa geschrieben hatte, hatte er Hans Wassong kennengelernt. Der stand damals schon wegen des Verdachts auf Entführung, Totschlag sowie Waffen-und Sprengstoffschmuggel seit Jahren auf der Fahndungsliste von Interpol. Mit der Zeit hatte sich der Journalist das Vertrauen des Kriminellen erworben und ihn als Quelle genutzt. Jetzt arbeiteten sie zwar wieder zusammen, jedoch unter umgekehrten Vorzeichen: Diesmal
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