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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe
Autoren: Martin Walser
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ge‐
    sprochen. Und Anna, ohne jeden Ausdruck: Mein Mann
    trinkt nicht mehr. Weder spöttisch noch bedauernd. Ihr war
    es gelungen, sachlich zu bleiben. Bewundernswert. Die
    Besucherin hob das Gläschen zu Gottlieb hin, Anna imitierte
    dieses Glasheben, beide tranken, Gottlieb sagte: Zum Wohl.
    Ja, sagte die Besucherin, wo soll ich anfangen! Das Philosophie‐Department an der University of North Carolina in
    Chapel Hill erfreue sich eines guten Rufs. Untergebracht in einem der sechzehn Campusse. Caldwell Hall heiße ihr
    Quartier. Da werde umgebaut seit Monaten, und seit Mona‐
    ten hänge eine rötliche Kunststoffröhre aus dem Haus heraus

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    und die Röhre habe oben einen eigenartigen, aber doch ziem‐
    lich eindeutig gewölbten Abschluß, dem zuliebe man eigent‐
    lich wünscht, das Haus vis á vis mit der entsprechenden weiblichen Ausrüstung zu bestücken. Sie möchte, sobald sie
    ihre Doktorarbeit beendet hat, schreiben, frei schreiben, sich
    freischreiben. Zwei Kommilitoninnen wollen sich aus ihren
    jungen Ehen schon wieder lösen, aber nur, um sich wieder auf Bindungen einzulassen, die genau zu den Verhältnissen
    führen, aus denen sie sich gerade befreien wollen. Vor
    dergleichen will sie sich schreibend bewahren. An ihrem
    Leinenkleid − rostrot mit gelblichen Blumen − hatte sie die drei oberen Knöpfe offen gelassen. Man sah ihren Körper
    beginnen.
    Anna stand auf. Sie habe noch eine Protokollierung, in
    Pfullendorf. Und gab der Besucherin die Hand. Falls Sie, wenn ich zurückkomme, nicht mehr da sind, sagte sie, und zu Gottlieb, lächelnd: Du wirst ja, denke ich, noch da sein.
    Die Besucherin produzierte, Anna nachschauend, im sar‐
    kastischen Echoton: Pfullendorf! Dann drehte sie sich ent-schlossen in Richtung See und sagte Wow, als bemerke sie erst jetzt, daß da zwischen etlichen Stämmen der See her-aufgleißte. Und so nah, sagte sie. Bei der Großtante in Langenargen sehe man ihn nur vom oberen Stockwerk aus,
    zwischen Häusern durch. Und auch noch ein Boot, sagte sie.
    NIOBE, sagte Gottlieb. Jetzt sag bloß nicht: Kommen Sie, besuchen wir NIOBE.
    Sie sagte, damit könne sie im Augenblick nichts anfangen.
    Hoffentlich nie, sagte Gottlieb. Und weil sie fragend schaute
    und dabei ihr Mund förmlich schwoll, sagte er noch: Die ist
    versteinert, später. Vor Schmerz. Ach, sagte sie. Und das ch

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    beatmete sie so lange, wie sie vorher bei scharf das f beatmet
    hatte. Ihr Mund blieb nach diesem Achchch halb offen
    hängen. Dann sah sie aber die zwei Schwäne, also rief sie: Und auch noch Schwäne! Was sollte er darauf sagen? Die
    Schwäne glitten durchs Bild, als seien sie dazu bestellt.
    Erst als sie verschwunden waren, schaltete die Besucherin um. Diesmal zu La Mettrie. Wenn nicht dessen 250. Todestag
    bevorstünde und wenn nicht doch ein kleiner Erinnerungs‐
    eifer sich auch in Deutschland bemerkbar machte, säße sie jetzt wohl nicht hier. Und hätte sie nicht diese Großtante in Langenargen, hätte vielleicht auch der 250. Todestag des
    Verehrungswürdigen nicht gereicht, sie hierherzubringen.
    Was sie, das sage sie jetzt schon, zu bedauern hätte. Es gebe
    doch wirklich nicht mehr als eine Hand voll Menschen in jedem Land, mit denen zusammen man La Mettrie feiern
    könne. Arzt und Philosoph, und beides so heftig, daß daraus
    notwendigerweise ein Drittes hervorgehen mußte, nämlich
    ein Mensch, der mit seinen Sinnen soviel erfuhr, daß er auch
    als Denkender niemals von seinen Erfahrungen verlassen
    wurde. Einverstanden? Gottlieb hob die Hände, ließ sie
    fallen, nickte, das hieß, bitte, machen Sie weiter, ich höre Ihnen gern zu.
    Ihr Thema sei La Mettries aufhaltsames Bekanntwerden in
    Deutschland. Mit dem Satz, die Bewegung, die die Welt erhält, hat sie auch erschaffen können, habe La Mettrie sie kassiert, sagte sie. Sie soll, sie will in einer Doktorarbeit nachweisen, warum die sonst so geistesimportfreudigen Deutschen für La
    Mettrie nicht viel übrig hatten und haben. Glen O. Rosenne,
    ihr Professor, und der Gründer der amerikanischen La
    Mettrie‐Gesellschaft, hat Vermutungen, die sie bestätigen

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    soll. Tatsächlich werde La Mettrie in der deutschen Universi‐
    tätsphilosophie am liebsten unter plattem Materialismus geführt, als oberflächlich, einseitig, Erfinder einer nur dem Genuß verschriebenen Unethik! Schon wie sein wichtigster
    Titel übersetzt wird: Der Mensch eine Maschine, oder neuestens: Der Mensch als Maschine. Für LʹHomme Machine!
    Leicht zu
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