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Der Aufbewarier (German Edition)

Der Aufbewarier (German Edition)

Titel: Der Aufbewarier (German Edition)
Autoren: Béla Bolten
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angespitzt, vermutlich hatten sie einmal als Zaun ein Grundstück umfriedet.
    »Na, sieh mal einer an«, sagte der Junge. »Da hat der olle Westphal wohl irgendwo einen Jägerzaun geklaut, damit er es mit seiner Alten schön warm hat in der Stube.«
    Daut ergriff einen der Pfähle. Wie beim Mikadospiel, das er früher wegen seiner fehlenden Hand zwar gerne, aber doch erfolglos mit Luise gespielt hatte, fiel der gesamte Stapel Pflöcke zusammen. Er wiegte einen in der Hand und ging zurück zur Luftschutztür. Dabei stolperte er über einen gewaltigen, mitten im Kellerflur stehenden Pappkarton. Er wollte ihn mit dem Fuß zur Seite schieben, schaffte es aber nicht, ihn auch nur einen Zentimeter zu bewegen.
    »Verdammt, was ist denn da drin? Wackersteine?«
    Daut stieg über den Behälter und setzte den Pfahl an der Tür an.
    »Hilf mir mal!«
    Der Junge lehnte sich mit seinem ganzen Körpergewicht gegen das Pfahlende. Gemeinsam zogen sie am Hebel, und die Tür gab nach.
    Eine sehr kleine, sehr alte Frau drückte die Tür mit beiden Händen von innen endgültig auf.
    »Na endlich! Wir wollten schon die Mauer in den Nachbarkeller aufbrechen. Wie sieht es draußen aus?«
    »Nicht viel passiert.«
    Daut zwängte sich an ihr vorbei in den Keller.
    »Alles in Ordnung hier? Niemand verletzt?«
    »In Ordnung ist nichts«, antwortete ein Mann, den Daut auf etwa sechzig Jahre schätzte. Sicher war er sich nicht, der Krieg ließ die Menschen schnell altern.
    »Seien Sie vorsichtig, wenn Sie rausgehen. Wem gehört dieser Karton? Man sollte ihn wegräumen, sonst fällt noch jemand drüber.«
    Der Mann, der zuvor nichts in Ordnung gefunden hatte, ergriff den Pappbehälter und ächzte, als er ihn hochhob. Mit Schwung warf er ihn zur Seite. Als er auf dem Boden aufkam, riss die rechte Hälfte auf. Ein in Zeitungspapier gehüllter Klumpen rollte heraus.
    »Ist das Ihr Karton?«, fragte Daut.
    »Sehe ich so aus, als hätte ich das schwere Ding hier reingeschleppt?«
    Der Mann schlug das Papier zurück.
    »Na, was haben wir denn da? Da hat wohl ein Volksgenosse sein schwarz geschlachtetes Schwein in Sicherheit bringen wollen.«
    Daut konnte nicht erkennen, um was für ein Fleischstück es sich handelte. Für einen Schinken war es zu groß. Ganz frisch schien es auch nicht zu sein, denn ein leicht süßlicher Geruch stieg ihm in die Nase. Er versuchte, den Fleischklumpen vollständig in den Karton zurückzustopfen. Das Zeug musste raus aus dem Keller. Als er mit einer Hand an dem Behälter zog, riss die leicht angenässte Pappe der Länge nach auf. Daut trat einen entsetzten Schritt zurück. Was dort aus dem Karton ragte, war ohne Zweifel eine menschliche Hand. Und ein Finger zeigte genau auf ihn.

Samstag, 27. Februar 1943
    Zwei
     
    »Sie sperren jetzt endgültig alle ein. Alle, Kurt! Hast du mich verstanden?«
    Carla rüttelte ihren Mann an der Schulter.
    Kurt schaute sie aus vor Müdigkeit geröteten Augen an. Jede Bombennacht war eine Tortur. Er durfte als Jude nicht in den Luftschutzkeller und saß in der verdunkelten Wohnung, während um ihn herum die Bomben detonierten und Gebäude wie Spielkartenhäuser zusammenbrachen. Dabei war das nicht einmal das Schlimmste. Am meisten bedrückte ihn, dass Carla sich weigerte, ihn allein zu lassen. Sobald die Sirenen losheulten, hockte sie neben ihm auf der Erde, zitternd vor Angst und unfähig, ihrer Panik Ausdruck zu verleihen. Sie zog die Knie an und umklammerte ihre Unterschenkel mit den Armen, als könne sie damit einen sicheren Kokon bilden. In diesen Momenten hasste er sich für den unverantwortlichen Leichtsinn, seine große Liebe geheiratet zu haben. Das war jetzt schon fast acht Jahre her, und im Mai 1935 waren Ehen zwischen Juden und Nichtjuden noch nicht verboten gewesen. Aber er hätte ahnen müssen, in welche Gefahr er Carla brachte. Immerhin war Hitler damals schon zwei Jahre Reichskanzler und ließ keinen Zweifel daran, dass er den Juden in Deutschland den Garaus machen wollte. Jetzt war es also so weit, dass ihn auch seine Ehe mit einer »Arierin« nicht mehr schützte. Er griff Carlas Hände und nahm sie vorsichtig von seinen Schultern, schlang seine Arme um sie und drückte sie an sich. Er vergrub sein Gesicht in ihre dichten, schwarzen Haare, die wie immer leicht nach Rosen dufteten. Wie kam Carla bloß immer noch an diese Seife? Vermutlich hatte die Ufa ihre Geheimquellen, und auch wenn seine Frau nur noch selten kleine Filmrollen bekam - der Ehefrau eines Juden konnte man
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