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Der Abgrund

Titel: Der Abgrund
Autoren: David Baldacci
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Mensch würde sich plötzlich in eine Leiche verwandeln. Die wichtigsten Schüsse jedoch, mit denen Web als Scharfschütze zu tun gehabt hatte, waren jene gewesen, die er nicht abgefeuert hatte. So war es in diesem Job. Es war kein Job für Leute mit schwachen Nerven oder für geistig Arme, nicht einmal für Menschen mit durchschnittlicher Intelligenz.
    Web bedankte sich stumm bei den Scharfschützen, die dort oben die Stellung hielten, und lief weiter die Straße entlang.
    Als Nächstes stießen sie auf ein Kind, einen Jungen, vielleicht neun Jahre alt, der ohne Hemd auf einem Betonbrocken saß, und weit und breit kein Erwachsener in der Nähe. Der aufziehende Sturm hatte die Temperatur um mindestens zehn Grad gesenkt, und das Quecksilber fiel weiter. Trotzdem trug der Junge kein Hemd. Web fragte sich, ob er jemals eins trug. Er hatte schon viele Kinder erlebt, die in Armut lebten. Web hielt sich keineswegs für einen Zyniker, aber er war Realist. Diese Kinder taten ihm Leid, aber er konnte nichts tun, um ihnen zu helfen. Und heutzutage musste man überall mit Gefahren rechnen, also suchte sein Blick automatisch den Körper des Jungen ab, ob er eine Waffe bei sich trug. Glücklicherweise fand er nichts. Web wäre es unangenehm gewesen, auf ein Kind schießen zu müssen.
    Der Junge sah ihn unverwandt an. Im flackernden Schein der einzigen Straßenlampe, die aus irgendeinem Grund noch funktionierte, zeichnete sich die Gestalt des Kindes überdeutlich ab. Web bemerkte den zu schlanken Körper und die bereits verhärteten Muskeln in Armen und Schultern und an den hervortretenden Rippen, die an die Rindenwucherung über einer alten Verletzung eines Baumes erinnerten. Auf der Stirn des Jungen verheilte ein Messerschnitt. Ein runzliges Loch in der linken Wange rührte von einer Kugel her - daran gab es für Web keinen Zweifel.
    »Donnerhall«, sagte der Junge mit erschöpfter Stimme, dann lachte er. Es war eher ein meckerndes Lachen. Die Worte und das Lachen klangen in Webs Kopf wie angeschlagene Becken nach, aber er hatte keine Ahnung, warum. Er spürte sogar ein Kribbeln auf der Haut. Er hatte schon viele Kinder gesehen, für die es keine Hoffnung gab, aber dieses Mal ging in seinem Kopf etwas vor sich, das er nicht einschätzen konnte. Vielleicht machte er diesen Job schon zu lange, obwohl jetzt alles andere als der geeignete Zeitpunkt war, um darüber nachzudenken.
    Webs Finger verharrte in der Nähe des Abzugs, während er an der Spitze der Gruppe mit federnden Schritten weiterlief und versuchte, das Bild des Jungen aus seinem Kopf zu verdrängen. Obwohl er selbst sehr schlank war und nicht über imposante Muskeln verfügte, steckte eine enorme Kraft in seinen von Natur aus breiten Schultern, den langen Armen und starken Fingern. Und er war mit Abstand der schnellste Mann der Gruppe und verfügte zudem über eine beeindruckende Ausdauer. Kraft, Geschwindigkeit und Ausdauer - das war es, wofür sein muskulöser Körper trainiert war. Patronen durchdrangen Muskeln genauso mühelos wie Fett. Aber das Blei konnte einem keine Schmerzen zufügen, wenn es einen nicht traf.
    Ein massiger Mann von eins achtzig, so hätte ihn jeder beschrieben, der ihn sah. Zumindest früher. Heute konzentrierten sich die meisten ganz auf den Zustand seiner linken Gesichtshälfte, beziehungsweise dessen, was davon noch übrig war. Wenngleich erstaunlich war, wie gut sich heutzutage zerstörte Körperteile rekonstruieren ließen. Bei günstiger Beleuchtung war fast nichts mehr von dem alten Einschusskrater zu bemerken, der durch einen wiederaufgebauten Wangenknochen und sorgsam verpflanztes Hautgewebe eingeebnet worden war. Wirklich beeindruckend, hatten alle gesagt. Alle bis auf Web.
    Am Ende der Straße hielt die Gruppe wieder an und ging geduckt zu Boden. Direkt neben Web hockte Teddy Riner. Über sein drahtloses Knochenmikrofon kommunizierte Riner mit der Einsatzzentrale und meldete, dass Charlie auf Gelb stand und die Erlaubnis benötigte, auf Grün zu gehen - die »kritische Zone« zu betreten, was in diesem Fall lediglich eine fantasievolle Bezeichnung für die Haustür war. Web hielt die SR75 mit einer Hand fest und tastete nach seiner maßgefertigten 45er, die in einem Halfter tief an seinem rechten Bein steckte. Eine identische Pistole hing an der kugelsicheren Weste, die seinen Brustkorb schützte, und auch diese berührte er während des kurzen Rituals unmittelbar vor dem Angriff.
    Web schloss die Augen und stellte sich vor, wie die
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