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Denn niemand hört dein Rufen

Denn niemand hört dein Rufen

Titel: Denn niemand hört dein Rufen
Autoren: Mary Higgins Clark
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von einer Straßenbombe getötet wurde, wollte sie nicht mehr in ihrer gemeinsamen Wohnung bleiben. Etwa ein Jahr später, als sie sich gerade von ihrer Operation erholte, hatte ihr Vater Sean Kelly ihr dieses bescheidene Haus im Kolonialstil überschrieben. Nachdem er lange Zeit Witwer gewesen war,
wollte er jetzt wieder heiraten und nach Florida ziehen. »Em, es ist einfach vernünftig«, hatte er gesagt. »Keine Hypothek. Steuern erträglich. Du kennst die meisten Nachbarn. Probier es doch einfach. Und wenn du nach einiger Zeit lieber etwas anderes willst, dann verkaufst du es wieder und hast gleich eine Anzahlung auf etwas Neues parat.«
    Aber es stellte sich dann heraus, dass es genau das Richtige war, dachte Emily, als sie mit Bess unter dem Arm in die Küche eilte. Es ist wunderbar, hier zu wohnen. Der Kaffeeautomat, auf sieben Uhr eingestellt, kündigte piepsend an, dass der Kaffee bereits fertig war. Ihr Frühstück bestand aus frisch gepresstem Orangensaft, einem gerösteten englischen Muffin und zwei Tassen Kaffee. Mit der zweiten Tasse in der Hand eilte Emily wieder nach oben, um zu duschen und sich anzuziehen.
    Ein neues knallrotes Top fügte dem anthrazitfarbenen Hosenanzug vom letzten Jahr eine fröhliche Note hinzu. Durchaus angemessen fürs Gericht, fand sie, außerdem ein gutes Gegengift gegen diesen grauen Märzmorgen und den Traum von Mark. Sie überlegte eine Zeit lang, ob sie ihre glatten braunen Haare lose auf die Schultern fallen lassen sollte, entschied sich aber dann doch, sie hochzustecken. Etwas Wimperntusche und Lippenstift zur Abrundung des Ganzen. Als sie ihre kleinen silbernen Ohrringe ansteckte, ging ihr durch den Kopf, dass sie nie mehr Rouge auftrug. Als sie krank gewesen war, hatte sie niemals ohne das Haus verlassen.
    Wieder im Erdgeschoss, ließ sie Bess noch einmal kurz in den Garten, dann strich sie ihr ein letztes Mal über das Köpfchen und sperrte sie in ihre Hundebox.
    Zwanzig Minuten später fuhr sie auf den Parkplatz des
Gerichtsgebäudes von Bergen County. Obwohl es erst Viertel nach acht war, war der Parkplatz wie immer bereits halb voll. Seit sechs Jahren war Emily jetzt Assistenzstaatsanwältin, und sobald sie aus dem Auto stieg und über den Asphalt zum Gerichtsgebäude ging, fühlte sie sich so richtig in ihrem Element. Hochgewachsen und schlank wie sie war, fiel sie durchaus auf, doch sie war sich gar nicht bewusst, wie viele bewundernde Blicke ihr folgten, als sie mit raschen Schritten an den ankommenden Autos vorbeieilte. In Gedanken war sie bereits bei dem Beschluss, den die Grand Jury heute verkünden sollte.
    In den vergangenen Tagen hatte die Anhörung vor der Grand Jury im Fall des Mordes an Natalie Raines stattgefunden, der Broadway-Schauspielerin, die vor fast zwei Jahren in ihrem Haus erschossen worden war. Obwohl er von Anfang an verdächtigt wurde, war ihr von ihr getrennt lebender Ehemann Gregg Aldrich erst vor drei Wochen verhaftet worden, nachdem ein mutmaßlicher Komplize sich gemeldet hatte. Es wurde erwartet, dass die Grand Jury in Kürze formell Anklage erheben würde.
    Er war es, sagte sich Emily mit Nachdruck, als sie das Gerichtsgebäude betrat und die hohe Eingangshalle durchquerte. Sie ließ den Fahrstuhl links liegen und stieg die Treppe zum ersten Stock hinauf. Ich würde alles darum geben, diesen Fall vor Gericht zu vertreten, ging ihr durch den Kopf.
    Zur Abteilung der Staatsanwaltschaft, im Westflügel des Gebäudes, gehörten vierzig Assistenzstaatsanwälte, siebzig Ermittler und fünfundzwanzig Sekretärinnen. Sie gab den Sicherheitscode an der Tür ein, drückte sie auf, winkte der Telefonistin zu, dann schlüpfte sie aus ihrem Mantel, noch bevor sie den kleinen fensterlosen Raum erreichte,
der ihr als Büro zugeteilt worden war. Eine Garderobenleiste, zwei graue Aktenregale aus Stahl, zwei nicht zueinanderpassende Stühle für Zeugenbefragungen, ein fünfzig Jahre alter Schreibtisch und ihr Drehstuhl, das war in etwa die ganze Einrichtung. Zierpflanzen auf den Regalen und auf einer Ecke ihres Schreibtischs waren, wie Emily es nannte, ihr Beitrag zur Begrünung Amerikas.
    Sie hängte ihren Mantel an die wackelige Garderobe, setzte sich auf ihren Stuhl und nahm sich die Akte vor, die sie am Abend zuvor studiert hatte. Der Fall Lopez, ein banaler Ehestreit, der mit einem Totschlag geendet hatte. Zwei kleine Kinder, von nun an mutterlos, und ein Vater im Bezirksgefängnis. Und meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass er drin bleibt,
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