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Denn das Glueck ist eine Reise

Denn das Glueck ist eine Reise

Titel: Denn das Glueck ist eine Reise
Autoren: Caroline Vermalle
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eingewickelt worden war. Georges wartete schon eine Weile darauf. Es war nicht einfach gewesen, das zu finden, was er gesucht hatte.
    Georges kehrte ins Haus zurück und legte das Paket, ohne es zu öffnen, in seinen Koffer. Er hatte extra Platz dafür gelassen. Als er den kleinen Koffer ein wenig wehmütig schloss, wurde ihm das Absurde dieses Planes schlagartig bewusst. Das Absurde, das Abwegige und auch das Sinnlose daran. Er setzte sich auf seinen Gartenstuhl, stopfte sich die Kissen in den Rücken, nahm die Fernbedienung, die auf dem Téléstar lag, und schaltete den Fernseher ein. Wie immer zur Mittagszeit seit all den Jahren. Es war doch so einfach, mit allem immer wie gewohnt weiterzumachen. Und jetzt bereitete er sich auf die Tour de France vor. Was für eine Dummheit!
    Warum hatte er eingewilligt, Charles zu begleiten? Warum verspürte er plötzlich mit dreiundachtzig Jahren Lust auf Abenteuer? Er, der doch so selten aus dieser Gegend herausgekommen war, auch in früheren Zeiten, als seine Knochen noch stabil gewesen waren. Seine letzte Chance, würden sie sicherlich alle denken: Ach, Opa, wollen Sie es jetzt allen noch einmal zeigen, ein bisschen Spaß haben und den anderen weismachen, dass Sie noch unbesiegbar sind und dass es doch noch vorangeht? Sagen aber würden sie: »Ein Jugendtraum, den man sich in diesem Alter erfüllt, ist das nicht schön?« Seien wir ehrlich, es reizte ihn tatsächlich, denn jeder hatte seinen Stolz. Doch das alles war wohl eher etwas für Charles. Er war noch jung und kerngesund oder doch fast und hatte obendrein eine schöne, große Familie. Bei Georges war das anders. Die Leute hatten recht, es war wirklich seine letzte Chance. Es war die letzte Chance, mit einer großen Verbeugung von der Bühne abzutreten. Eigentlich musste sie nicht einmal groß sein. Nur würdevoll. Und der Abgang: erhobenen Hauptes.
    Sein ausgebesserter Körper hielt noch, zwar mit ein paar Schmerzen, aber er hielt. Doch der Mann in diesem Körper stand schon lange nicht mehr aufrecht. Beinahe im Voraus besiegt, wartete er darauf, dass die Prognosen der Ärzte sich bewahrheiteten, dass die Statistiken bewiesen wurden und dass die Wahrscheinlichkeit ihn traf. Da all das aber nicht geschah, hatte er beschlossen, aufzubrechen und der Wahrscheinlichkeit entgegenzugehen. Dreiundachtzig Jahre, ein Körper, dem er auf der ganzen Linie arg zugesetzt hatte, dreitausendfünfhundert Kilometer und eine zwei Monate lange Reise. Die Rechnung war schnell gemacht, und daher hatte es ihn auch überrascht, dass Charles darauf bestanden hatte, ihn zu begleiten. Aber er musste sie machen, diese große Reise, ehe eine Kompanie von Krankenpflegern mit ihrem ganzen Aufgebot an wohlgemeinten Demütigungen anrücken und ihm bis zum Schluss jeden kleinsten Handgriff abnehmen würde.
    Plötzlich sah alles ganz anders aus. All das hatte er sich vorher gesagt, als er noch kühn genug gewesen war, an die Reise zu glauben. In den Augenblicken, als ihn wahnsinnige Begeisterung, Mut und unerschütterliche Entschlossenheit angetrieben hatten. Doch seit ein paar Minuten war all das wie weggeblasen. Der Mut, die Entschlossenheit, die Kühnheit – sie alle hatten ihn im Stich gelassen. Es blieben nur seine Stimmen. Diese verdammten Stimmen.
    Nein, er verlor nicht den Verstand. Es waren die Stimmen seines Zuhauses, und das war ganz normal. Aber heute Nachmittag ließen sie ihn nicht in Ruhe. Es waren die Stimmen seines Gartenstuhls, der Polsterauflagen und der Wettervorhersage, die Stimmen des Kräutertees und seiner Tomatenpflanzen, die Stimmen all dieser vertrauten Dinge und die des Hauses selbst. Sie sangen ihm die süße Melodie des Alltäglichen und stimmten den vertrauten Refrain von der Sinnlosigkeit von Veränderungen an – wer kennt ihn nicht? Diese Stimmen sagten ihm, dass es viel einfacher sei, das Schicksal auf sich zukommen zu lassen und sich sanft, ganz sanft von ihm einlullen zu lassen. Die Tage verstreichen zu lassen, bis sie zu Ende gingen. Die Stimmen flüsterten ihm sogar eine gute Ausrede zu: dieser unerwartete Anruf.
    Je länger Georges über den Plan nachdachte, desto lächerlicher erschien er ihm. Ja, er war wirklich furchtbar lächerlich. Das war nicht wagemutig, sondern verrückt, nicht weise, sondern der reinste Wahnsinn. Mit traurigem Blick schaute er auf seinen Koffer. Heute war weder Mittwoch noch Samstag, also würde Charles zum Tee kommen, und er würde ihm alles erklären. Außerdem schmerzte sein Knie
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