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Demian

Demian

Titel: Demian
Autoren: Hermann Hesse
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erschrecken machen, wenn ich ihn plötzlich wieder hörte. Ich hörte ihn von nun an oft, mir schien, ich höre ihn immer und immerzu. Kein Ort, kein Spiel, keine Arbeit, kein Gedanke, wohin dieser Pfiff nicht drang, der mich abhängig machte, der jetzt mein Schicksal war. Oft war ich in unsrem kleinen Blumengarten, den ich sehr liebte, an den sanften, farbigen Herbstnachmittagen, und ein sonderbarer Trieb hieß mich, Knabenspiele früherer Epochen wieder aufzunehmen; ich spielte gewissermaßen einen Knaben, der jünger war als ich, der noch gut und frei, unschuldig und geborgen war. Aber mitten hinein, immer erwartet und immer doch entsetzlich aufstörend und überraschend, klang der Kromersche Pfiff von irgendwoher, schnitt den Faden ab, zerstörte die Einbildungen. Dann mußte ich gehen, mußte meinem Peiniger an schlechte und häßliche Orte folgen, muß-
    te ihm Rechenschaft ablegen und mich um Geld mahnen lassen. Das Ganze
    hat vielleicht einige Wochen gedauert, mir schien es aber, es seien Jahre, es sei eine Ewigkeit. Selten hatte ich Geld, einen Fünfer oder einen Groschen, der vom Küchentisch gestohlen war, wenn Lina den Marktkorb dort stehen ließ.
    jedesmal wurde ich von Kromer gescholten und mit Verachtung überhäuft;
    ich war es, der ihn betrügen und ihm sein gutes Recht vorenthalten wollte, ich war es, der ihn bestahl, ich war es, der ihn unglücklich machte! Nicht oft 15
    im Leben ist mir die Not so nah ans Herz gestiegen, nie habe ich größere Hoffnungslosigkeit, größere Abhängigkeit gefühlt.
    Die Sparbüchse hatte ich mit Spielmarken gefüllt und wieder an ihren Ort gestellt, niemand fragte danach. Aber auch das konnte jeden Tag über mich hereinbrechen. Noch mehr als vor Kromers rohem Pfiff fürchtete ich mich oft vor der Mutter, wenn sie leise zu mir trat – kam sie nicht, um mich nach der Büchse zu fragen?
    Da ich viele Male ohne Geld bei meinem Teufel erschienen war, fing er an, mich auf andere Art zu quälen und zu benutzen. Ich mußte für ihn arbeiten. Er hatte für seinen Vater Ausgänge zu besorgen, ich mußte sie für ihn besorgen.
    Oder er trug mir auf, etwas Schwieriges zu vollführen, zehn Minuten lang auf einem Bein zu hüpfen, einem Vorübergehenden einen Papierwisch an den Rock zu heften. In Träumen vieler Nächte setzte ich diese Plagen fort und lag im Schweiß des Alpdruckes.
    Eine Zeitlang wurde ich krank. Ich erbrach oft und hatte leicht kalt, nachts aber lag ich in Schweiß und Hitze. Meine Mutter fühlte, daß etwas nicht richtig sei, und zeigte mir viel Teilnahme, die mich quälte, weil ich sie nicht mit Vertrauen erwidern konnte.
    Einmal brachte sie mir am Abend, als ich schon im Bett war, ein Stückchen Schokolade. Es war ein Anklang an frühere Jahre, wo ich abends, wenn ich brav gewesen war, oft zum Einschlafen solche Trostbissen bekommen hatte.
    Nun stand sie da und hielt mir das Stückchen Schokolade hin. Mir war so weh, daß ich nur den Kopf schütteln konnte. Sie fragte, was mir fehle, sie streichelte mir das Haar. Ich konnte nur herausstoßen: Nicht! Nicht! Ich will
    ”
    nichts haben.“ Sie legte die Schokolade auf den Nachttisch und ging. Als sie mich andern Tages darüber ausfragen wollte, tat ich, als wüßte ich nichts mehr davon. Einmal brachte sie mir den Doktor, der mich untersuchte und mir kalte Waschungen am Morgen verschrieb.
    Mein Zustand zu jener Zeit war eine Art von Irrsinn. Mitten im geordneten Frieden unseres Hauses lebte ich scheu und gepeinigt wie ein Gespenst, hatte nicht teil am Leben der andern, vergaß mich selten für eine Stunde. Gegen meinen Vater, der mich oft gereizt zur Rede stellte, war ich verschlossen und kalt.

16
Kain
    Die Rettung aus meinen Qualen kam von ganz unerwarteter Seite, und zugleich mit ihr kam etwas Neues in mein Leben, das bis heute fortgewirkt hat.
    In unserer Lateinschule war vor kurzem ein neuer Schüler eingetreten. Er war der Sohn einer wohlhabenden Witwe, die in unsere Stadt gezogen war, und er trug einen Trauerflor um den Ärmel. Er ging in eine höhere Klasse als ich und war mehrere Jahre älter, aber auch mir fiel er bald auf, wie allen. Dieser merkwürdige Schüler schien viel älter zu sein, als er aussah, auf niemanden machte er den Eindruck eines Knaben. Zwischen uns kindischen
    Jungen bewegte er sich fremd und fertig wie ein Mann, vielmehr wie ein Herr.
    Beliebt war er nicht, er nahm nicht an den Spielen, noch weniger an Rauferei-en teil, nur sein selbstbewußter und entschiedener Ton gegen die
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