Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Demian

Demian

Titel: Demian
Autoren: Hermann Hesse
Vom Netzwerk:
sah in den Wolken einen Augenblick deutlich ein Bild.“
    ”Was für ein Bild?“
    ”Es war ein Vogel.“
    ”Der Sperber? War er’s? Dein Traumvogel?“
    ”Ja, es war mein Sperber. Er war gelb und riesengroß und flog in den
    ”
    blauschwarzen Himmel hinein.“
    Demian atmete tief auf.
    Es klopfte. Die alte Dienerin brachte Tee.
    Nimm dir, Sinclair, bitte. – Ich glaube, du hast den Vogel nicht zufällig
    ”
    gesehen?“
    Zufällig? Sieht man solche Sachen zufällig?“
    ”Gut, nein. Er bedeutet etwas. Weißt du was?“
    ”Nein. Ich spüre nur, daß es eine Erschütterung bedeutet, einen Schritt im
    ”
    Schicksal. Ich glaube, es geht uns alle an.“
    Er ging heftig auf und ab.
    Einen Schritt im Schicksal!“ rief er laut. Dasselbe habe ich heute nacht
    ”
    ”
    geträumt, und meine Mutter hatte gestern eine Ahnung, die sagte das gleiche.
    – Mir hat geträumt, ich stieg eine Leiter hinauf, an einem Baumstamm oder Turm. Als ich oben war, sah ich das ganze Land, es war eine große Ebene, mit Städten und Dörfern brennen. Ich kann noch nicht alles erzählen, es ist mir noch nicht alles klar.“
    Deutest du den Traum auf dich?“ fragte ich.
    ”Auf mich? Natürlich. Niemand träumt, was ihn nicht angeht. Aber es geht
    ”
    mich nicht allein an, da hast du recht. Ich unterscheide ziemlich genau die Träume, die mir Bewegungen in der eigenen Seele anzeigen, und die anderen, sehr seltenen, in denen das ganze Menschenschicksal sich andeutet. Ich habe selten solche Träume gehabt, und nie einen, von dem ich sagen könnte, er sei eine Prophezeiung gewesen und in Erfüllung gegangen. Die Deutungen sind zu ungewiß. Aber das weiß ich bestimmt, ich habe etwas geträumt, was nicht mich allein angeht. Der Traum gehört nämlich zu anderen, früheren, die ich hatte und die er fortsetzt. Diese Träume sind es, Sinclair, aus denen ich die Ahnungen habe, von denen ich dir schon sprach. Daß unsere Welt recht faul ist, wissen wir, das wäre noch kein Grund, ihren Untergang oder dergleichen 102
    zu prophezeien. Aber ich habe seit mehreren Jahren Träume gehabt, aus denen ich schließe, oder fühle, oder wie du willst – aus denen ich also fühle, daß der Zusammenbruch einer alten Welt näher rückt. Es waren zuerst ganz schwache, entfernte Ahnungen, aber sie sind immer deutlicher und stärker geworden. Noch weiß ich nichts andres, als daß etwas Großes und Furchtbares im Anzug ist, das mich mit betrifft. Sinclair, wir werden das erleben, wovon wir manchmal gesprochen haben! Die Welt will sich erneuern. Es riecht nach Tod. Nichts Neues kommt ohne Tod. – Es ist schrecklicher, als ich gedacht hatte.“ Erschrocken starrte ich ihn an.
    Kannst du mir den Rest deines Traumes nicht erzählen?“ bat ich schüch-
    ”
    tern.
    Er schüttelte den Kopf.
    Nein.“
    Die Türe ging auf und Frau Eva kam herein.
    Da sitzet ihr beieinander! Kinder, ihr werdet doch nicht traurig sein?“
    ”
    Sie sah frisch und gar nicht mehr müde aus. Demian lächelte ihr zu, sie kam zu uns wie die Mutter zu verängstigten Kindern.
    Traurig sind wir nicht, Mutter, wir haben bloß ein wenig an diesen neu-
    en Zeichen gerätselt. Aber es liegt ja nichts daran. Plötzlich wird das, was kommen will, da sein, und dann werden wir das, was wir zu wissen brauchen, schon erfahren.“
    Mir aber war schlecht zumut, und als ich Abschied nahm und allein durch die Halle ging, empfand ich den Hyazinthenduft welk, fad und leichenhaft. Es war ein Schatten über uns gefallen.

103
Anfang vom Ende
    Ich hatte es durchgesetzt, noch das Sommersemester in H. bleiben zu können.
    Statt im Hause, waren wir nun fast immer im Garten am Fluß. Der Japaner, der übrigens im Ringkampf richtig verloren hatte, war fort, auch der Tolstoi-mann fehlte. Demian hielt sich ein Pferd und ritt Tag für Tag mit Ausdauer.
    Ich war oft mit seiner Mutter allein.
    Zuweilen wunderte ich mich über die Friedlichkeit meines Lebens. Ich war so lang gewohnt, allein zu sein, Verzicht zu üben, mich mühsam mit meinen Qualen herumzuschlagen, daß diese Monate in H. mir wie eine Trauminsel
    vorkamen, auf der ich bequem und verzaubert nur in schönen, angenehmen
    Dingen und Gefühlen leben durfte. Ich ahnte, daß dies der Vorklang jener neuen, höheren Gemeinschaft sei, an die wir dachten. Und je und je ergriff mich über dies Glück eine tiefe Trauer, denn ich wußte wohl, es konnte nicht von Dauer sein. Mir war nicht beschieden, in Fülle und Behagen zu atmen, ich brauchte Qual und Hetze. Ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher