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Demian

Demian

Titel: Demian
Autoren: Hermann Hesse
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eingerichtet hatte. Von dorther kam das helle, weiße Licht der Frühlingssonne, die durch Regenwolken schien. Ich glaubte, es sei niemand da, und schlug einen der Vorhänge zurück.
    Da sah ich auf einem Schemel nahe beim verhängten Fenster Max Demian
    sitzen, zusammengekauert und seltsam verändert, und wie ein Blitz durchfuhr mich ein Gefühl: das hast du schon einmal erlebt! Er hatte die Arme regungslos hängen, die Hände im Schoß, sein etwas vorgeneigtes Gesicht mit offenen Augen war blicklos und erstorben, im Augenstern blinkte tot ein kleiner, greller Lichtreflex, wie in einem Stück Glas. Das bleiche Gesicht war in sich versunken und ohne anderen Ausdruck als den einer ungeheuren Starrheit, es sah aus wie eine uralte Tiermaske am Portal eines Tempels. Er schien nicht zu atmen.
    Erinnerung überschauerte mich – so, genau so hatte ich ihn schon einmal gesehen, vor vielen Jahren, als ich noch ein kleiner Junge war. So hatten die Augen nach innen gestarrt, so waren die Hände leblos nebeneinander gelegen, eine Fliege war ihm übers Gesicht gewandert. Und er hatte damals, vor vielleicht sechs Jahren, gerade so alt und so zeitlos ausgesehen, keine Falte im Gesicht war heute anders.
    Von einer Furcht überfallen ging ich leise aus dem Zimmer und die Treppe hinab. In der Halle traf ich Frau Eva. Sie war bleich und schien ermüdet, was ich an ihr nicht kannte, ein Schatten flog durchs Fenster, die grelle, weiße 100
    Sonne war plötzlich verschwunden.
    Ich war bei Max“, flüsterte ich rasch.
    Ist etwas geschehen? Er schläft,
    ”
    ”
    oder ist versunken, ich weiß nicht, ich sah ihn früher schon einmal so.“
    Sie haben ihn doch nicht geweckt?“ fragte sie rasch.
    ”Nein. Er hat mich nicht gehört. Ich ging gleich wieder hinaus. Frau Eva,
    ”
    sagen Sie mir, was ist mit ihm?“
    Sie fuhr sich mit dem Rücken der Hand über die Stirn.
    Seien Sie ruhig, Sinclair, es geschieht ihm nichts. Er hat sich zurückgezogen.
    ”
    Es wird nicht lange dauern.“
    Sie stand auf und ging in den Garten hinaus, obwohl es eben zu regnen
    anfing. Ich spürte, daß ich nicht mitkommen sollte. So ging ich in der Halle auf und ab, roch an den betäubend duftenden Hyazinthen, starrte mein Vogelbild über der Türe an und atmete mit Beklemmung den seltsamen Schatten, von dem das Haus an diesem Morgen erfüllt war. Was war dies? Was war
    geschehen?
    Frau Eva kam bald zurück. Regentropfen hingen ihr im dunkeln Haar. Sie
    setzte sich in ihren Lehnstuhl. Müdigkeit lag über ihr. Ich trat neben sie, beugte mich über sie und küßte die Tropfen aus ihrem Haar. Ihre Augen
    waren hell und still, aber die Tropfen schmeckten mir wie Tränen.
    Soll ich nach ihm sehen?“ fragte ich flüsternd.
    ”
    Sie lächelte schwach.
    Seien Sie kein kleiner Junge, Sinclair!“ ermahnte sie laut, wie um in sich
    ”
    selber einen Bann zu brechen. Gehen Sie jetzt, und kommen Sie später wieder,
    ”
    ich kann jetzt nicht mit Ihnen reden.“
    Ich ging und lief von Haus und Stadt hinweg gegen die Berge, der schräge dünne Regen kam mir entgegen, die Wolken trieben niedrig unter schwerem Druck wie in Angst vorüber. Unten ging kaum ein Wind, in der Höhe schien es zu stürmen, mehrmals brach für Augenblicke die Sonne bleich und grell aus dem stählernen Wolkengrau.
    Da kam über den Himmel weg eine lockere gelbe Wolke getrieben, sie staute sich gegen die graue Wand, und der Wind formte in wenigen Sekunden aus
    dem Gelben und dem Blauen ein Bild, einen riesengroßen Vogel, der sich aus blauem Wirrwarr losriß und mit weiten Flügelschlägen in den Himmel hinein verschwand. Dann wurde der Sturm hörbar, und Regen prasselte mit Hagel
    vermischt herab. Ein kurzer, unwahrscheinlich und schreckhaft tönender Donner krachte über der gepeitschten Landschaft, gleich darauf brach wieder ein Sonnenblick durch, und auf den nahen Bergen überm braunen Wald leuchtete fahl und unwirklich der bleiche Schnee.
    Als ich naß und verblasen nach Stunden wiederkehrte, öffnete Demian mir selbst die Haustür.

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    Er nahm mich mit sich in sein Zimmer hinauf, im Laboratorium brannte
    eine Gasflamme, Papier lag umher, er schien gearbeitet zu haben.
    Setz dich“, lud er ein, du wirst müde sein, es war ein scheußliches Wetter,
    ”
    ”
    man sieht, daß du tüchtig draußen warst. Tee kommt gleich.“
    Es ist heute etwas los“, begann ich zögernd, es kann nicht nur das bißchen
    ”
    ”
    Gewitter sein.“
    Er sah mich forschend an.
    Hast du etwas gesehen?“
    ”Ja. Ich
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