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Demian

Demian

Titel: Demian
Autoren: Hermann Hesse
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Erwachte, oder Erwachende, und unser Streben ging auf ein immer vollkommeneres Wachsein, während
    das Streben und Glücksuchen der anderen darauf ging, ihre Meinungen, ihre Ideale und Pflichten, ihr Leben und Glück immer enger an das der Herde
    zu binden. Auch dort war Streben, auch dort war Kraft und Größe. Aber
    während, nach unserer Auffassung, wir Gezeichneten den Willen der Natur zum Neuen, zum Vereinzelten und Zukünftigen darstellten, lebten die andern in einem Willen des Beharrens. Für sie war die Menschheit – welche sie liebten wie wir – etwas Fertiges, das erhalten und geschützt werden mußte. Für uns war die Menschheit eine ferne Zukunft, nach welcher wir alle unterwegs waren, deren Bild niemand kannte, deren Gesetze nirgend geschrieben standen.
    Außer Frau Eva, Max und mir gehörten zu unsrem Kreise, näher oder fer-
    ner, noch manche Suchende von sehr verschiedener Art. Manche von ihnen
    gingen besondere Pfade, hatten sich abgesonderte Ziele gesteckt und hingen an besonderen Meinungen und Pflichten, unter ihnen waren Astrologen und Kabbalisten, auch ein Anhänger des Grafen Tolstoi, und allerlei zarte, scheue, verwundbare Menschen, Anhänger neuer Sekten, Pfleger indischer Übungen, Pflanzenesser und andre. Mit diesen allen hatten wir eigentlich nichts Geistiges gemein als die Achtung, die ein jeder dem geheimen Lebenstraum des andern gönnte. Andre standen uns näher, welche das Suchen der Menschheit nach
    Göttern und neuen Wunschbildern in der Vergangenheit verfolgten und deren Studien mich oft an die meines Pistorius erinnerten. Sie brachten Bücher mit, übersetzten uns Texte alter Sprachen, zeigten uns Abbildungen alter Symbole und Riten und lehrten uns sehen, wie der ganze Besitz der bisherigen Menschheit an Idealen aus Träumen der unbewußten Seele bestand, aus Träumen, in welchen die Menschheit tastend den Ahnungen ihrer Zukunftsmöglichkeiten nachging. So durchliefen wir den wunderbaren, tausendköpfigen Götterknäuel der alten Welt bis zum Herandämmern der christlichen Umkehr. Die Bekenntnisse der einsamen Frommen wurden uns bekannt, und die Wandlungen der
    Religionen von Volk zu Volk. Und aus allem, was wir sammelten, ergab sich uns die Kritik unserer Zeit und des jetzigen Europa, das in ungeheuren Bestre-bungen mächtige neue Waffen der Menschheit erschaffen hatte, endlich aber in eine tiefe und zuletzt schreiende Verödung des Geistes geraten war. Denn es hatte die ganze Welt gewonnen, um seine Seele darüber zu verlieren.
    Auch hier gab es Gläubige und Bekenner bestimmter Hoffnungen und Heils-
    lehren. Es gab Buddhisten, die Europa bekehren wollten, und Tolstoijünger, und andre Bekenntnisse. Wir im engern Kreise hörten zu und nahmen keine dieser Lehren anders an denn als Sinnbilder. Uns Gezeichneten lag keine 96
    Sorge um die Gestaltung der Zukunft ob. Uns schien jedes Bekenntnis, jede Heilslehre schon im voraus tot und nutzlos. Und wir empfanden einzig das als Pflicht und Schicksal: daß jeder von uns so ganz er selbst werde, so ganz dem in ihm wirksamen Keim der Natur gerecht werde und zu Willen lebe, daß die ungewisse Zukunft uns zu allem und jedem bereit finde, was sie bringen möchte.
    Denn dies war, gesagt und ungesagt, uns allen im Gefühl deutlich, daß ei-ne Neugeburt und ein Zusammenbruch des Jetzigen nahe und schon spürbar
    sei. Demian sagte mir manchmal: Was kommen wird, ist unausdenklich. Die
    ”
    Seele Europas ist ein Tier, das unendlich lang gefesselt lag. Wenn es frei wird, werden seine ersten Regungen nicht die lieblichsten sein. Aber die Wege und Umwege sind belanglos, wenn nur die wahre Not der Seele zutage kommt,
    die man seit so langem immer und immer wieder weglügt und betäubt. Dann wird unser Tag sein, dann wird man uns brauchen, nicht als Führer oder neue Gesetzgeber – die neuen Gesetze erleben wir nicht mehr –, eher als Willige, als solche, die bereit sind, mitzugehen und da zu stehen, wohin das Schicksal ruft. Sieh, alle Menschen sind bereit, das Unglaubliche zu tun, wenn ihre Ideale bedroht werden. Aber keiner ist da, wenn ein neues Ideal, eine neue, vielleicht gefährliche und unheimliche Regung des Wachstums anklopft. Die wenigen, welche dann da sind und mitgehen, werden wir sein. Dazu sind wir gezeichnet – wie Kain dazu gezeichnet war, Furcht und Haß zu erregen und die damalige Menschheit aus einem engen Idyll in gefährliche Weiten zu treiben.
    Alle Menschen, die auf den Gang der Menschheit gewirkt haben, alle ohne Unterschied
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