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Demian

Demian

Titel: Demian
Autoren: Hermann Hesse
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interessiert: die Sache begann mich zu fesseln. Aber
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    wie soll man die Geschichte anders erklären?“
    Er schlug mir auf die Schulter.
    Ganz einfach! Das, was vorhanden war und womit die Geschichte ihren
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    Anfang genommen hat, war das Zeichen. Es war da ein Mann, der hatte etwas im Gesicht, was den andern Angst machte. Sie wagten nicht, ihn anzurühren, er imponierte ihnen, er und seine Kinder. Vielleicht, oder sicher, war es aber nicht wirklich ein Zeichen auf der Stirn, so wie ein Poststempel, so grob geht es im Leben selten zu. Viel eher war es etwas kaum wahrnehmbares Unheimliches, ein wenig mehr Geist und Kühnheit im Blick, als die Leute gewohnt waren.
    Dieser Mann hatte Macht, vor diesem Mann scheute man sich. Er hatte ein Zeichen‘. Man konnte das erklären, wie man wollte. Und man‘ will immer das,
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    was einem bequem ist und recht gibt. Man hatte Furcht vor den Kainskindern, sie hatten ein Zeichen‘. Also erklärte man das Zeichen nicht als das, was es
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    war, als eine Auszeichnung, sondern als das Gegenteil. Man sagte, die Kerls mit diesem Zeichen seien unheimlich, und das waren sie auch. Leute mit Mut und Charakter sind den anderen Leuten immer sehr unheimlich. Daß da ein Geschlecht von Furchtlosen und Unheimlichen herumlief, war sehr unbequem, und nun hängte man diesem Geschlecht einen Übernamen und eine Fabel an, um sich an ihm zu rächen, um sich für alle die ausgestandne Furcht ein bißchen schadlos zu halten. Begreifst du?“
    Ja – das heißt – dann wäre ja Kain also gar nicht böse gewesen? Und die
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    ganze Geschichte in der Bibel wäre eigentlich gar nicht wahr?“
    Ja und nein. So alte, uralte Geschichten sind immer wahr, aber sie sind
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    nicht immer so aufgezeichnet und werden nicht immer so erklärt, wie es richtig wäre. Kurz, ich meine, der Kain war ein famoser Kerl, und bloß, weil man Angst vor ihm hatte, hängte man ihm diese Geschichte an. Die Geschichte war einfach ein Gerücht, so etwas, was die Leute herumschwätzen, und es war insofern ganz wahr, als Kain und seine Kinder ja wirklich eine Art Zeichen‘
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    trugen und anders waren als die meisten Leute.“
    Ich war sehr erstaunt.
    Und dann glaubst du, daß auch das mit dem Totschlag gar nicht wahr ist?“
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    fragte ich ergriffen.
    O doch! Sicher ist das wahr. Der Starke hatte einen Schwachen erschlagen.
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    Ob es wirklich sein Bruder war, daran kann man ja zweifeln. Es ist nicht wichtig, schließlich sind alle Menschen Brüder. Also ein Starker hat einen Schwachen totgeschlagen. Vielleicht war es eine Heldentat, vielleicht auch nicht.
    Jedenfalls aber waren die andern Schwachen jetzt voller Angst, sie beklagten sich sehr, und wenn man sie fragte: Warum schlaget ihr ihn nicht einfach auch
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    tot?‘ dann sagten sie nicht: Weil wir Feiglinge sind‘, sondern sie sagten: Man
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    kann nicht. Er hat ein Zeichen. Gott hat ihn gezeichnet!‘ Etwa so muß der Schwindel entstanden sein. – Na, ich halte dich auf. Adieu denn!“
    Er bog in die Altgasse ein und ließ mich allein, verwunderter, als ich je gewesen war. Kaum war er weg, so erschien mir alles, was er gesagt hatte, ganz unglaublich! Kain ein edler Mensch, Abel ein Feigling! Das Kainszeichen eine Auszeichnung! Es war absurd, es war gotteslästerlich und ruchlos. Wo blieb dann der liebe Gott? Hatte der nicht Abels Opfer angenommen, hatte der
    nicht Abel lieb? – Nein, dummes Zeug! Und ich vermutete, Demian habe sich über mich lustig machen und mich aufs Glatteis locken wollen. Ein verflucht gescheiter Kerl war er ja, und reden konnte er, aber so – nein –
    Immerhin hatte ich noch niemals über irgendeine biblische oder andere Geschichte so viel nachgedacht. Und hatte seit langem noch niemals den Franz Kromer so völlig vergessen, stundenlang, einen ganzen Abend lang. Ich las zu Hause die Geschichte noch einmal durch, wie sie in der Bibel stand, sie war kurz und deutlich, und es war ganz verrückt, da nach einer besonderen, geheimen Deutung zu suchen. Da könnte jeder Totschläger sich für Gottes Liebling erklären! Nein, es war Unsinn. Nett war bloß die Art, wie Demian solche Sachen sagen konnte, so leicht und hübsch, wie wenn alles selbstverständlich wäre, und mit diesen Augen dazu!
    Etwas freilich war ja bei mir selbst nicht in Ordnung, war sogar sehr in Unordnung. Ich hatte in einer lichten und sauberen Welt gelebt, ich war selber eine Art von Abel gewesen, und jetzt stak ich so tief im andern“, war so
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