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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
Autoren: Javier Marías
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breitgetreten und zur Schau getragen wird, als Verbündeter oder Komplize oder als Mitwisser, wenn man so will, von derjenigen angeprangert zu werden, deren Geheimnis ich bewahre und deren ausschließliche Verfügungsgewalt über die Materie ich stets anerkannt und respektiert habe, ohne jemandem etwas zu sagen. Ihre Verfügungsgewalt und ihre Urheberschaft, beides, obwohl in ihre Materie zumindest zwei weitere Personen verwickelt sind, eine, die es weiß, und die andere ohne die geringste Ahnung, oder vielleicht ist mein Freund trotz allem noch nicht verwickelt und wäre es nur, wenn ich es ihm erzählen würde. Dagegen kann es sein, daß ich derjenige bin, der durch sein Wissen verwickelt ist und weil er gehört und interpretiert hat – dachte ich –, darauf bringen mich meine lange Erfahrung und die lange Liste meiner Verantwortlichkeiten, die sich, wie ich täglich feststelle, jeden Tag, der vergeht, der sie verwischt und ferner rückt und bewirkt, daß sie mir bisweilen als nur gelesen oder auf dem Bildschirm gesehen oder als phantasiert erscheinen, nicht so leicht abschütteln, ja nicht einmal vergessen lassen. Oder die abzuschütteln oder zu vergessen überhaupt nicht möglich ist.
    Nein, ich sollte niemals etwas erzählen und auch niemals etwas hören.

I ch habe es eine Zeitlang getan, zuhören und aufmerksam sein und interpretieren und erzählen, ich habe es in dieser Zeit als bezahlte Arbeit getan, aber ich hatte es seit jeher getan und tue es immer noch, passiv und unfreiwillig, ohne Anstrengung und ohne Entlohnung, es steht längst fest, daß ich es nicht vermeiden kann oder daß es meine Art ist, in der Welt zu sein, es wird mich bis zum Tod begleiten, dann werde ich mich davon ausruhen. Mehr als einmal hat man mir gesagt, es sei eine Gabe, die ich besitze, und so führte Peter Wheeler es mir vor Augen, der mich darauf aufmerksam machte, als er sie mir erklärte und beschrieb, die Dinge existieren erst, wenn man sie benennt, das weiß jeder oder ahnt es. Aber ich sehe diese Gabe bisweilen als Fluch, und dabei beschränke ich mich jetzt gewöhnlich auf die drei ersten Tätigkeiten, die stumm und innerlich sind und dem Gewissen verpflichtet und niemanden außer einen selbst zu betreffen brauchen, und erzähle nur, wenn mir nichts anderes übrigbleibt und man mich hartnäckig darum bittet. Denn in meiner beruflichen oder sagen wir entlohnten Etappe in London habe ich gelernt, daß das bloße Geschehen uns kaum betrifft oder nicht mehr als das Nicht-Geschehen, wohl aber seine Erzählung (auch die Erzählung des nicht Geschehenen), die zwangsläufig ungenau, verräterisch, annähernd und im Grunde nichtig ist und doch fast das einzige, das zählt, das Entscheidende, das, was uns seelisch verstört und uns in die Irre gehen läßt und unsere Schritte vergiftet und sicher das träge, schwache Rad der Welt in Bewegung hält.
    Es ist nicht willkürlich, es ist keine Laune, daß im Bereich der Spionage oder bei Verschwörungen oder Verbrechen das Wissen, wie viele an einer Mission oder einem Anschlag oder einem Coup – im Untergrund, im Geheimen – beteiligt sind, diffus, partiell, fragmentarisch, verzerrt ist, daß jeder über seine Aufgabe informiert ist, aber nicht über das Ganze oder das letzte Ziel. Wir haben im Kino gesehen, wie der Partisan, der ahnt, daß er den nächsten Hinterhalt oder das Attentat, das er vorbereitet, nicht lebend überstehen wird, beim Abschied zu seiner Braut sagt: Es ist besser, daß du nichts weißt, dann wirst du beim Verhör die Wahrheit sagen, wenn du sagst, daß du nichts weißt, die Wahrheit ist einfach, sie besitzt mehr Kraft und ist glaubhafter, die Wahrheit überzeugt. (Es stimmt, daß die Lüge Fabulierungs- und Improvisationsvermögen und Erfindungskraft und ein eisernes Gedächtnis und komplexe Konstruktionen erfordert, alle praktizieren sie, aber nur wenige sind befähigt.) Oder wie der Kopf, der den großen Raub geplant hat, der ihn ausheckt und dirigiert, seinen Handlanger oder einen Schergen belehrt: Wenn du nur deinen Teil kennst, geht die Sache ihren Gang, auch wenn sie dich kriegen oder du versagst. (Es ist wahr, man kann immer zulassen, daß sich irgendein Glied aus der Kette löst oder etwas schiefgeht, das endgültige Scheitern kommt weder rasch zustande noch ist es so einfach, jedes Unterfangen, jede Aktion widersteht und liegt in letzten Zuckungen vor dem Ende und dem Zusammenbruch.) Oder wie der Chef des Geheimdienstes dem Agenten, den er
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