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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
Autoren: Javier Marías
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entlassen, ohne Urheberschaften, oder, weniger prosaisch gesagt, alles bloß in Gerücht und Sprichwort und Legende zu verwandeln, die von Mund zu Mund gehen und von Feder zu Feder und von Bildschirm zu Bildschirm, alles unkontrolliert und unbestimmt, alles ursprungs-, halt- und herrenlos, alles getrieben und scheu geworden und zügellos.
    Dagegen versuche ich, mich immer ganz genau an meine Quellen zu erinnern, vielleicht eine Folge meiner vergangenen beruflichen Tätigkeit, die gegenwärtig geblieben ist, denn sie verläßt mich nicht (ich mußte die Erinnerung schulen, das Wahre vom Eingebildeten zu unterscheiden, das Geschehene vom Angenommenen, das Gesagte vom Verstandenen);und je nach ihrer Beschaffenheit versuche ich, meine Information und mein Wissen nicht zu benutzen, oder ich verbiete es mir sogar, jetzt, da ich mich diesen Dingen nur noch gelegentlich widme, wenn es stärker ist als mein Wille und ich es nicht vermeiden kann oder wenn Freunde mich darum bitten, die mich nicht bezahlen oder nicht mit Geld, nur mit ihrer Dankbarkeit und einem vagen Gefühl, in meiner Schuld zu stehen. Eine schlechte Bezahlung das, denn es kommt zuweilen vor, und vielleicht ist das nicht weiter seltsam, daß sie versuchen, dieses Gefühl auf mich zu übertragen, damit ich es bin, der darunter leidet, und wenn ich mich nicht hergebe für den Rollentausch und es mir tatsächlich nicht zu eigen mache und mich nicht verhalte, als verdankte ich ihnen das Leben, betrachten sie mich am Ende als ein undankbares Schwein und fliehen mich: viele Leute bereuen es, um Gefälligkeiten gebeten und erklärt zu haben, worin sie bestehen, und sich auf diese Weise allzu deutlich sich selbst erklärt zu haben.
    Vor einiger Zeit bat eine Freundin mich nicht um etwas, sondern zwang mich, ihr zuzuhören, und weihte mich ohne großes Getue, vielmehr mit ehrlichem Erschrecken in ihre frische ehebrecherische Beziehung ein, obwohl ich enger mit ihrem Mann befreundet bin als mit ihr, oder längere Zeit. Ein Bärendienst, den sie mir da erwies, ich wurde monatelang von meinem Wissen gequält – das sie, von Mal zu Mal narzißtischer, theatralisch und egoistisch erweiterte und erneuerte –, in der Gewißheit, daß ich vor meinem Freund Schweigen bewahren mußte: nicht nur, weil ich mir das Recht absprach, ihn über das zu unterrichten, was er womöglich – wie konnte man das wissen – lieber weiterhin nicht gewußt hätte; nicht nur, weil ich die Verantwortung nicht übernehmen wollte, mit meinen Worten fremde Handlungen und Entscheidungen auszulösen, sondern auch, weil ich mir sehr genau bewußt war, auf welche Weise diese unbequeme Erzählung zu mir gelangt war. Ich kann nicht frei über etwas verfügen, das ich weder durch Zufall noch durch meine Mittel, noch in Erfüllung eines Auftrags oder einer Bitte erfahren habe, sagte ich mir. Wenn ich die Frau meines Freundes dabei überrascht hätte, wie sie sich anschickte, mit dem Liebhaber ein Flugzeug nach Buenos Aires zu besteigen, hätte ich mir vielleicht vornehmen können, diesen unfreiwilligen Anblick, diese interpretierbare, aber stets bestreitbare Tatsache (angefangen damit, daß ich ohne Kenntnis der Beziehung mit dem Mann war, es wäre Sache meines Freundes und nicht meine gewesen, sich um den Verdacht zu kümmern) auf neutrale Weise zu enthüllen, wenn ich mich auch wahrscheinlich als Verräter oder Eindringling gefühlt und mich in keinem Fall getraut hätte. Doch die Möglichkeit hätte bestanden, das sagte ich mir. Da ich jedoch wußte, was ich von ihr erfahren hatte, war es mir vollkommen verboten, es gegen sie zu wenden oder ohne ihre Zustimmung zu verbreiten, nicht einmal im Glauben, auf diese Weise zugunsten des Freundes zu handeln, und dieser Glaube verlockte mich sehr in Momenten größter Unruhe, zum Beispiel wenn ich mit beiden zusammen war oder wir zu viert zu Abend aßen (meine Frau der vierte Tischgast, nicht der Liebhaber) und sie mir einen Blick geheimen Einverständnisses und lustvoller Furcht zuwarf (und ich den Atem anhielt) oder er sich sorglos auf irgendeinen bekannten Fall der bekannten Affäre von jemandem bezog, dessen Ehepartner jedoch nichts wußte von diesem Fall. (Und ich hielt den Atem an.) Und so schwieg ich etliche Monate lang und hörte und erlebte fast, was mich wenig interessierte und mir sehr mißfiel, und das alles, dachte ich in meinen trübsten Augenblicken, um eines Tages, wenn das Unangenehme ans Licht kommt oder endlich erzählt wird oder gar
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