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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
Autoren: Javier Marías
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werden uns taub stellen und ihn überhören, er wird nicht zählen, er wird Luft sein, Rauch, Dunst und sich nicht zu deinen Gunsten auswirken. Wenn du dich schuldig bekennst, werden wir dies für wahr befinden und es ernst nehmen; wenn unschuldig, dann nur im Scherz und mit Vorbehalt.« Auf diese Weise setzt man voraus, daß sowohl der Unschuldige als auch der Schuldige sich als ersteres bekennen werden; also wird es keinen Unterschied zwischen ihnen geben, wenn sie reden, sie werden am Ende gleichgemacht oder nivelliert. Und dann fügt man hinzu: »Du kannst schweigen«, obwohl auch das sie nicht, nicht den Unschuldigen vom Schuldigen, unterscheiden wird. (Schweigen, schweigen, das hohe Ziel, das niemand erreicht, nicht einmal nach seinem Tod, und doch rät man es uns und drängt uns dazu in den schwersten Momenten: »Schweig, schweig und sag nichts, nicht einmal, um dich zu retten. Hüte deine Zunge, verbirg sie, schluck sie hinunter, auch wenn du daran erstickst, als sei sie dir abgefallen. Schweig, und rette dich so.«)

I m Umgang miteinander, im Leben ohne Angst und Schrecken, sind derlei Hinweise nicht üblich, und vielleicht sollten wir ihr Nichtvorhandensein oder Fehlen niemals vergessen, oder, was das gleiche ist, die stets implizite, drohende, korrekte oder verzerrte Wiederholung dessen, was wir sagen und reden. Die Leute gehen hin und erzählen unweigerlich, sie erzählen alles früher oder später, das Interessante und das Flüchtige, das Private und das Öffentliche, das Intime und das Überflüssige, das, was verborgen bleiben sollte, und das, was verbreitet werden soll, den Schmerz und die Freuden und das Ressentiment, die Beleidigungen und die Anbetung und die Rachepläne, das, was uns mit Stolz, und das, was uns mit Scham erfüllt, das, was ein Geheimnis zu sein schien, und das, was es sein wollte, das allseits Bekannte und das Uneingestehbare, das Entsetzliche und das Offenkundige, das Wesentliche – die Verliebtheit – und das Bedeutungslose – die Verliebtheit. Ohne es sich zweimal zu überlegen. Die Leute erzählen unaufhörlich und berichten, ohne sich überhaupt bewußt zu sein, was sie tun, ohne sich der unkontrollierbaren Mechanismen der Heimtücke, der Doppeldeutigkeit, des Chaos bewußt zu sein, die sie in Gang setzen und die verheerend sein können, sie reden pausenlos über die anderen und über sich selbst und auch über die anderen, wenn sie über sich selbst reden, und auch über sich selbst, wenn sie über die anderen reden. Dieses ständige Erzählen wird bisweilen als Geschäft wahrgenommen, auch wenn es sich immer erfolgreich als Geschenk verkleidet (denn es besitzt bei jeder Gelegenheit etwas davon) und oft eher eine Bestechung ist oder das Begleichen irgendeiner Schuld oder eine Verwünschung, die einem bestimmten Adressaten gilt oder vielleicht dem Zufall anvertraut wird, damit dieser leichtfertig Glück oder Unglück schmiede, oder die Währung, mit der man soziale Beziehungen, Gefälligkeiten und Vertrauen und sogar Freundschaft und natürlich Sex kauft. Und auch eine Liebe, wenn das, was der andere erzählt, uns unverzichtbar erscheint und die Luft wird, die wir atmen. Einige von uns hat man dafür bezahlt, für das Erzählen und Hören und das Ordnen und Erzählen. Für das Festhalten und Beobachten und Auswählen. Für das Ausforschen, Aufbereiten, Erinnern. Für das Interpretieren und Übersetzen und Anstiften. Für das Zungelösen und das Überzeugen und das Verdrehen. (Mich hat man bezahlt für das Erzählen dessen, was noch nicht war oder gewesen war, für das Erzählen des Künftigen und Wahrscheinlichen oder nur Möglichen – die Hypothese –, das heißt, für das Erahnen und Vorstellen und Erfinden; und für das entsprechende Überzeugen.)
    Später vergessen die meisten, wie oder durch wen sie erfahren haben, was sie wissen, und es gibt Personen, die sogar glauben, es stamme von ihnen selbst, was auch immer es sei, eine Erzählung, eine Idee, eine Meinung, ein Klatsch, eine Anekdote, ein Trug, ein Witz, ein Wortspiel, eine Maxime, ein Titel, eine Geschichte, ein Aphorismus, ein Motto, eine Rede, ein Zitat oder ein ganzer Text, die sie sich selbstgefällig aneignen, überzeugt, ihre Erzeuger zu sein, oder vielleicht wissen sie durchaus, daß sie einen Diebstahl begehen, aber sie verbannen das aus ihren Gedanken und so verbergen sie es vor sich selbst. Dies geschieht immer öfter in unserer Zeit, als habe sie es eilig, alles in die Öffentlichkeit zu
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