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Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)

Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)

Titel: Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)
Autoren: Michelle Paver
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teilnehmen würde. Jetzt schreibe ich, weil ich den exakten Moment festhalten muss, in dem ich mich dazu entschlossen habe. Die Leiche im Fluss. Wenn dieser arme Schlucker nicht gewesen wäre, würde ich nicht mitgehen.
    Daher danke ich dir, namenloser Leichnam, und hoffe, dass du jetzt in Frieden ruhst, wo immer du bist.
    Ich gehe in die Arktis.

    Das Bild über dem Kaminsims. Soeben habe ich festgestellt, dass im Vordergrund ein Seehund ist. All die Jahre dachte ich, es sei eine Welle, dabei ist es in Wirklichkeit ein Seehund. Ich kann seinen runden nassen Kopf erkennen, der aus dem Wasser auftaucht. Und mich ansieht.
    Ich nehme das als gutes Omen.

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    2
    24. Juli, Grand Hotel, Tromsø, Nordnorwegen
    Ich wollte nichts mehr schreiben, bis wir in Norwegen waren, aus Furcht, das Schicksal herauszufordern. Ich war überzeugt, es würde etwas passieren, das die Expedition scheitern ließ. Beinahe wäre es so gekommen.
    Zwei Tage vor unserem geplanten Aufbruch starb der Vater von Teddy Wintringham. Er hinterließ ein Landgut in Sussex, «etliche dörfliche Liegenschaften», einen Wirrwarr an Geldanlagen und eine Anzahl Untergebene. Der Erbe war «zutiefst betrübt» (der Expedition, nicht seines Vaters wegen), doch obgleich ihm dabei «ungemein schrecklich» zumute sei, gehe es nicht an, dass er sich ein ganzes Jahr lang nicht um sein Erbteil kümmere, weswegen er absagen müsse.
    Die anderen sprachen wahrhaftig davon, die Expedition abzublasen. Wäre es «verantwortungsvoll», ohne Sanitäter zu reisen? Es fiel mir nicht leicht, meinen Zorn zu zügeln. Zum Teufel mit «verantwortungsvoll»; wir sind junge, tüchtige Männer! Außerdem, wenn einer krank wird, in Longyearbyen gibt es einen Arzt – und das ist doch nicht mehr als zwei Tage vom Lager entfernt.
    Es zeigte sich, dass Hugo und Gus mir beipflichteten; denn als wir abstimmten, war nur der Fettsack Algie dagegen. Und weil er der Letzte ist, der sich kämpferisch für seine Belange einsetzen würde, fügte er sich, als er sah, dass er überstimmt war.
    Anschließend ging ich in mein Zimmer und erbrach mich. Dann holte ich die Karte von Spitzbergen hervor. Auf der Karte heißt es «Svalbard»; denn das ist der neue Name, aber alle benutzen den alten, der auch der Name der größten Insel ist. Dorthin wollen wir. Ich habe unser Basislager rot markiert. Da, in der fernen nordöstlichen Ecke, an der Spitze der Landzunge. Gruhuken. Gru-huken. Ich glaube, «huken» heißt Haken, aber auch Spitze, Landspitze. Was «Gru» bedeutet, weiß ich nicht.
    Dort ist nichts. Nur ein Name auf der Landkarte. Das gefällt mir. Und mir gefällt, dass keine von den drei vorausgegangenen Expeditionen dort ihr Lager aufgeschlagen hat. Ich will, dass es uns gehört.
    In der Eisenbahn nach Newcastle waren wir alle nervös. Eine Menge deftige Uni-Witze, die ich nicht verstand. Gus versuchte sie zu erklären, aber dadurch fühlte ich mich erst recht als Außenseiter. Schließlich gab er es auf, und ich sah wieder aus dem Fenster.
    Wir hatten eine grässliche Überfahrt mit dem Postschiff nach Bergen und an der norwegischen Küste entlang; Algie und Hugo wurden seekrank. Hugo übergab sich säuberlich, wie eine Katze, aber der dicke Algie spuckte unser ganzes Gepäck voll. Gus hat klaglos hinter ihm aufgewischt; offenbar sind sie seit der Schulzeit enge Freunde. Gottlob habe ich einen eisernen Magen; da musste ich wenigstens nicht befürchten, seekrank zu werden. Aber jede Nacht, wenn ich mich in meiner Koje wälzte, träumte ich, ich sei wieder bei Marshall Gifford. Jeden Morgen wachte ich schweißgebadet auf und musste mir in Erinnerung rufen, dass es nicht wahr war.
    Und jetzt sind wir hier in Tromsø. Tromsø, von wo Amundsen vor neun Jahren in seinem Flugboot aufgebrochen ist und nie mehr gesehen wurde. Tromsø: vierhundertfünfzig Kilometer nördlich des Polarkreises. Meine erste Begegnung mit der Mitternachtssonne.
    Nur, sie ist nicht da. Der leichte, alles durchdringende Nieselregen hält seit Tagen an. Tromsø ist ein hübsches Fischerstädtchen: Die Holzhäuser sind rot, gelb und blau gestrichen wie Kinderbauklötze, und man sagt mir, dass dahinter schöne schneebedeckte Berge aufragen. Sonst würde ich es nicht wissen, ich habe sie nicht gesehen.
    Aber das kümmert mich nicht. Mir gefällt alles an diesem Ort, weil es nicht London ist. Weil ich frei bin. Ich mag das Geschrei der Möwen und das Platschen der See an den Hafenmauern. Ich mag die salzige Luft und
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