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Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)

Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)

Titel: Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)
Autoren: Michelle Paver
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wie das letzte Lebewesen auf Erden.
    Auf der Treppe zum dritten Stockwerk roch es nach gekochtem Kohl und Desinfektionsmittel. Es war so kalt, dass ich meinen Atem sehen konnte.
    In meinem Zimmer war es nicht besser, aber die Wut hielt mich warm. Ich griff mir mein Tagebuch und schrieb mir alles von der Seele. Zum Henker mit ihnen, ich gehe nicht mit.
    Das ist nun schon eine Weile her.
    In meinem Zimmer ist es eiskalt. Die Gasflamme wirft einen wässrigen Schimmer, der jedes Mal zittert, wenn eine Straßenbahn vorbeirattert. Ich habe keine Kohlen, zwei Zigaretten und zweieinhalb Pence, die bis zum nächsten Zahltag reichen müssen. Ich bin so hungrig, dass mein Magen das Knurren aufgegeben hat, weil er weiß, es ist zwecklos.
    Ich sitze im Mantel auf dem Bett. Er riecht nach Nebel. Und nach der Fahrt, die ich zweimal täglich mache, sechs Tage in der Woche, seit sieben Jahren, mit all den anderen grauen Leuten. Und nach Marshall Gifford, wo alle mich «College» nennen, weil ich einen Abschluss habe, und wo ich für drei Pfund die Woche Schiffsladungen mit Papier auf den Weg bringe, an Orte, die ich nie zu Gesicht bekommen werde.
    Ich bin achtundzwanzig Jahre alt, und ich hasse mein Leben. Ich habe nie die Zeit oder die Kraft, mir zu überlegen, wie sich das ändern ließe. Sonntags schlendere ich durch ein Museum, um es warm zu haben, oder ich vertiefe mich in ein Bibliotheksbuch oder fummele am Radio. Doch schon rückt der Montag bedrohlich näher. Und immer habe ich diese Panik in mir, weil ich weiß, ich bringe es zu nichts, halte mich bloß am Leben.
    Über dem Kaminsims ist ein Bild mit dem Titel «Eine Polarszene», das ich aus Illustrated London News ausgeschnitten habe. Weites, schneebedecktes Land und eine mit Eisbergen getüpfelte schwarze See. Ein Zelt, ein Schlitten und etliche Huskys. Zwei Männer im Parka stehen vor dem Kadaver eines Eisbären.
    Das Bild ist neun Jahre alt. Vor neun Jahren habe ich es ausgeschnitten und über das Kaminsims geheftet. Es war in meinem zweiten Jahr am UCL, und damals hatte ich noch Träume. Ich wollte Naturwissenschaftler werden, an Expeditionen teilnehmen und die Ursprünge des Universums entdecken. Oder die Geheimnisse des Atoms. Ich war mir nicht ganz sicher, was von beidem.
    Und da traf es mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel: just jetzt, beim Betrachten von «Eine Polarszene». Ich dachte an die Leiche im Fluss und sagte mir, Jack, du Idiot . Dies ist die einzige Chance, die du jemals haben wirst. Wenn du sie ausschlägst, was hat es dann noch für einen Sinn weiterzuleben? Noch ein Jahr bei Marshall Gifford und man wird dich aus der Themse fischen.
    Es ist fünf Uhr morgens, die Milchwagen rattern unter meinem Fenster vorbei. Ich bin die ganze Nacht auf gewesen und fühle mich großartig. Kalt, hungrig, benommen. Dennoch großartig.
    Ich sehe ständig das Gesicht von dem alten Gifford vor mir. «Aber Miller, das ist Wahnsinn! In ein paar Jahren können Sie Exportleiter sein!»
    Er hat recht, es ist wahnsinnig. In einer Zeit wie dieser eine sichere Stellung aufgeben? Eine gefahrlose Stellung obendrein. Wenn es wieder Krieg gäbe, würde ich vom Militärdienst freigestellt.
    Aber darüber kann ich jetzt nicht nachdenken. Bis ich zurückkomme, wird vermutlich wieder Krieg sein, dann kann ich in den Kampf ziehen. Oder, wenn nicht Krieg ist, gehe ich nach Spanien und kämpfe dort.
    Merkwürdig. Ich glaube, dass es Krieg gibt, empfinde aber nicht viel dabei. Ich fühle nur Erleichterung, dass Vater das nicht mehr erleben muss. Er wird nie erfahren, dass er im «Krieg zur Beendigung aller Kriege» umsonst gekämpft hat.
    Und wie gesagt, es erscheint mir nicht real . Für dieses eine Jahr verabschiede ich mich aus meinem Leben. Ich werde die Mitternachtssonne sehen, Eisbären, Seehunde, die sich von Eisbergen ins grüne Wasser gleiten lassen. Ich gehe in die Arktis.
    In sechs Monaten schiffen wir uns nach Norwegen ein. Ich habe die ganze Nacht hindurch geplant. Mir ausgerechnet, wie bald ich die Kündigung einreichen und trotzdem bis Juli überleben kann. Die Preisliste von Army & Navy studiert und Ausrüstungsgegenstände angestrichen. Ich habe einen Ertüchtigungsplan aufgestellt, und eine Lektüreliste, weil ich wahrhaftig nicht viel über Spitzbergen weiß. Nur, dass es eine Inselgruppe zwischen Norwegen und dem Pol ist, etwas größer als Irland und größtenteils mit Eis bedeckt.
    Als ich dieses Tagebuch begann, war ich überzeugt, dass ich nicht an der Expedition
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