Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Zimmer

Das Zimmer

Titel: Das Zimmer
Autoren: Andreas Maier
Vom Netzwerk:
Bollschen Existenz, seiner Existenz als Boll. Er saß in den Kneipen und erzählte von seinem Vater als großem Firmenchef mit Chauffeur und Hund. Daß er ihn mit dem Lederriemen schlug bzw. vor Zeiten geschlagen hatte, erzählte er natürlich nicht. Was den Vater betraf, kam ihm nie ein schlechtes Wort über die Lippen. Wahrscheinlich hielt J. alles, was passierte, sowieso für normal und für den ganz gewöhnlichen, naturhaften Gang der Welt. J. erzählte von der Firma, den Angestellten, den Löhnen, wahrscheinlich erzählte er auch, wo der Lohn aufbewahrt wurde, wie man am besten auf das Firmengelände gelangte und so weiter. Aber bevor irgendein Friedberger oder Bad Nauheimer auf den Gedanken kam, auf dem Firmengelände an der Usa einzubrechen, nahm man lieber den Weg über meinen Onkel, der für dieFamilie immer eine offene Stelle war, die offene finanzielle Wunde der Bolls, auch wenn er nur seinen eigenen Lohn ausgab. Die Familie jedoch wollte seinen Lohn natürlich nicht auf diese Weise verschleudert sehen. Man hätte es lieber gehabt, wenn er nicht so häufig in die Bierwirtschaften gegangen wäre.
    Morgens am Bahnhof traf er bisweilen auf Gerd Bornträger. Bornträger etwa, stelle ich mir vor, hatte er im sogenannten Köpi kennengelernt, einer Königspilsenerkneipe in Bad Nauheim. Bornträger war natürlich völlig betrunken gewesen, als er die Bekanntschaft meines Onkels gemacht hatte, und hatte sich von ihm gleich ein paar Bier ausgeben lassen und anschließend noch ein paar Schnäpse. So lernte mein Onkel immer die Menschen kennen. Die Betrunkenen in unseren Kneipen in der Wetterau versuchen stets, mit dir zu trinken, Bier und Schnaps, um anschließend einfach das Zahlen zu vergessen oder so zu tun, als hätten sie gerade kein Geld dabei, und wehe, das hat Erfolg. Dann wirst du sie nicht mehr los. Dann laufen sie dir nach, bis vor deine Haustür und am Ende noch mit dir hinein, wenn du nicht vorsichtig bist. Das war bei J. im Köpi nicht nötig, er soff sich selbst so sehr unter den Tisch, daß er gar nicht merkte, daß er wieder einmal für jemanden mitzahlte. Im Grunde zahlte er immer für jemanden mit. Manchmal hing die ganze Wirtschaft an ihm, dann schmiß er zehn Runden am Stück. Natürlich geschahdas nur in kleinen Kneipen, wo quasi alle am Tresen sitzen und nicht mehr als acht oder zehn Leute zu bewirten sind bei einer Lokalrunde. Deshalb versuchten sie ihn immer in genau solche Wirtschaften zu locken. Dort gehörte er zwar dazu, aber daß ihm das so hundertprozentig angenehm war, glaube ich nicht. Sonst wäre er nicht immer wieder ins Forsthaus Winterstein und zu den Jägern gegangen, die anständiger waren. Im Forsthaus hätte die Wirtin nie geduldet, daß mein Onkel derart ausgenommen wird. Und er selbst schwärmte am meisten immer vom Forsthaus. Das Forsthaus und der Winterstein waren seine liebsten Orte, abgesehen von seinem Darkroom zu Hause oder den Etablissements in Frankfurt, die aber auf bloßer Vermutung beruhen, auch wenn es gar nicht anders denkbar ist.
    Bornträger fuhr manchmal mit nach Frankfurt zur Frühschicht, denn er arbeitete ebenfalls am Hauptbahnhof, zumindest behauptete er das. Mein Onkel sah ihn tagsüber aber nie, nirgendwo im Bahnhof und schon gar nicht auf dem Postamt, wo J. arbeitete. (Auf der Rückfahrt sah er ihn auch nie.) Regelmäßig im Zug saß auch Rudi Weber, dessen Vater bei meinem Großvater, also dem Vater von J., im Steinbruch als Steinhauer arbeitete. Weber, der Sohn, arbeitete Frühschicht bei einem Betrieb im Frankfurter Gallusviertel. Man nannte ihn den Weberrudi, den Sohn vom Steinhauer Weber. Er grüßte J. immerhöflich, und manchmal redeten die beiden über ihre Väter. Wenn J. über seinen Vater, den großen Firmenchef, sprach, war er stolz und gehörte dazu. Er berichtete alles, was seinen Vater und die Firma betraf, im Ton höchster Gewichtigkeit. Völlig in Begeisterung konnte er geraten, wenn etwa eine neue Maschine bestellt worden war, die natürlich auf ihrem Gebiet die neueste und größte und beste von allen war. Mein Onkel dachte immer in Superlativen. Alles mußte zu einem Superlativ umgedacht werden, auch sämtliche Maschinen auf dem Firmengelände. Der andere Sohn, der Weberrudi, auch schon Ende dreißig wie mein Onkel damals, hörte dann höflich zu, und Bornträger machte sich über J. lustig (vielleicht nicht anders als ich im Keller, wenn J. sägte und feilte) und zwinkerte Weber zu, um sich mit ihm gegen meinen Onkel zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher