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Das Zimmer

Das Zimmer

Titel: Das Zimmer
Autoren: Andreas Maier
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Welt, und so ging er auch durch den Wald in seinem Jagdjäckchen. Er ging gebannt und aufmerksam durch den Wald, wie später ich. Onkel J. ist der einzige in der Familie, der Vögel erkennen konnte, das haben wir gemeinsam. Vielleicht wollte er auch hier dazugehören: nicht zu den Waldtieren, aber doch zu denen, die sie bejagen und sich mit ihnen auskennen und schießen dürfen, im Gegensatz zu ihm, der nieschießen durfte. Vielleicht ging J. sogar in den Wald, um dort Ruhe zu haben, vor sich und vor dem, was ihm in der Hose lag, die wohl wie immer ungewaschen war, denn er duschte in späteren Jahren, wie gesagt, nie und behaftete alles binnen kürzester Zeit mit seinem Geruch. Allerdings, wenn ich es recht bedenke, dann kann gar nicht stimmen, was immer erzählt wird. J. muß sich schon gewaschen haben, hin und wieder, auch in späteren Jahren, aber nicht, wenn er von seiner Arbeit am Frankfurter Hauptbahnhof zurückkam, und auch nicht, wenn er sich anschließend nach seinen Nachtschichten ausgeschlafen hatte und in die Küche oder ins Wohnzimmer kam oder gar die Oma mit seinem nazibraunen VW zu uns nach Friedberg fuhr, um unser Haus vollzustinken, nein. Aber nachher muß er sich doch gewaschen haben, nämlich bevor er in den Wald und anschließend in die Wirtschaft ging (oder auch nur in die Wirtschaft).

2
    So stelle ich mir einen Tag im Leben meines Onkels J. vor: Gegen morgens um halb fünf läuft er in seinem jägerfarbenen Parka, im Winter mit Mütze, im Sommer ohne, die acht Minuten zum nahegelegenen Bad Nauheimer Bahnhof, der damals zwei Schalterbeamte hatte und in dem die Züge noch stets genau nach Fahrplan fuhren. Kaffee trinkt man aus einer Porzellantasse, und der Kiosk ist noch nicht begehbar, das heißt, ein Pornoheft kann man sich nur anschauen, wenn man es sich vom Kioskbediensteten vorlegen läßt. Kein verschämtes Herumstehen in der Ecke wie heutzutage mit freier Auswahl auf Busen- und Hinternmagazine, Anal und Die Nachbarin , seit langem auch auf Schwanzmagazine, denn die Geschlechter sind inzwischen durcheinandergekommen, auch in den Bahnhofkiosks, obgleich da alles immer zuletzt ankommt. Heute muß man genau wissen, was man will, damals dagegen hatte jemand wie mein Onkel noch eine vergleichsweise geringe Auswahl, die ihm aber gar nicht gering vorkam. Männer hätten ihn verwirrt. Heute wäre das vielleicht anders. Aber dafür ist er gerade noch rechtzeitig gestorben. Damals herrschten vergleichsweise klare Einteilungen. Manlebte die meiste Zeit ein ordentliches Leben, indem man arbeiten ging und Heino hörte oder ein zünftiges Bier in der Wirtschaft oder zu Hause am Kühlschrank trank, und das andere war geheim und fand höchstens am Kiosk statt, an den man zweimal die Woche ging, und es kostete ja auch noch alles Geld und mußte dann versteckt werden. Da war das Heftchen noch die Katharsis für unsere Gottesgeschöpflichkeit, da besah man die Bildchen und lebte damit und davon, und anschließend kehrte man unbeschädigt in den Hort der Gesellschaft und des Arbeitslebens zurück. Es gab noch Sitte, alles andere war in der Ecke. Heute wäre mein Onkel überfordert. Damals hatte er möglicherweise ein gutes geschäftliches Verhältnis zum Kiosk am Bad Nauheimer Bahnhof, überdies rauchte er sehr viel, R6, die kaufte er dort ebenfalls. Vielleicht hatte der Kioskbesitzer schon morgens um halb fünf geöffnet, wegen des Nachtschicht- oder Frühschichtverkehrs. Aber vielleicht war es auch ganz anders, und Onkel J. saß mit seinem Ledertäschchen ordentlich und gewaschen unter Kollegen und gehörte endlich dazu und war auch etwas, ein Pendler mit Arbeit, der etwas zu erzählen hatte, Erzählungen von seiner Arbeit, von seinem Vorgesetzten, seinen Kollegen, Erzählungen von besonders schweren Paketen oder besonders interessanten Lieferungen oder irgendwie außergewöhnlichen Vorkommnissen. Oder sie steckten alle untereiner Decke und sprachen von den Frauen. Vielleicht hatten sie damals schon ganz und gar begriffen, was und wer mein Onkel war, und ließen sich sämtliche Materialien von ihm kaufen und von seinem Lohn bezahlen. Und er kaufte und bezahlte, damit er dazugehörte und sich anerkannt glaubte unter seinen Kollegen morgens um halb fünf Uhr in der Früh in Bad Nauheim in der Wetterau.
    Mein Onkel verkehrte ständig in Wirtschaften, und da setzte sich der eine oder andere automatisch auf seine Spur. Mein Onkel, der geburtsbehinderte, prahlte ständig mit seiner Existenz, also mit seiner
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