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Das Zimmer

Das Zimmer

Titel: Das Zimmer
Autoren: Andreas Maier
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der ich mich nämlich durch diese ganze Welt bewegen konnte, wie ich wollte (bzw. sollte), und obgleich diese Welt eigentlich nur aus zwei Häusern bestand, aus meinem Elternhaus und dem Haus in der Uhlandstraße, in das ich viel später, 1999, selbst einziehen würde, als schon alle tot waren, war es dennoch die universalste Welt, die man sich denken kann. Übrigens erweiterte ich diesen Weltkreis im weiteren Verlauf meines Lebens kaum, eigentlich später nur noch um den Begriff Wetterau, und dabei ist es dann auch geblieben, vom Zimmer meines Onkels über den Keller und alles Weitere bis hin zur Wetterau, meiner Heimat. Selbst Rom und alle anderen Städte, in denen ich gelebt habe, sind heute Bestandteil der Welt, die die Wetterau ist.
    Meines Erachtens hatte es mein Onkel nicht aufJungens abgesehen, sonst hätte er irgend etwas mit mir dort unten im Keller gemacht. Vielleicht war er aber auch einfach zu sehr, selbst wie ein Kind, von Ehrfurcht vor seiner eigenen Mutter ergriffen, die ihn bis ins hohe Alter völlig selbstverständlich umsorgte bzw. ertrug. Vielleicht hätte er sich aufgrund dieser Ehrfurcht von allem zurückgehalten. Aber irgendwann mußte er wohl begriffen haben, daß sich an Frauen auszutoben wenigstens normaler war als an anderem (d. h. gesellschaftlich anerkannter und nicht in dem Maße mit Scham und Strafe behaftet). Vielleicht waren auf diese Weise die Frauen für ihn in den Mittelpunkt gerückt, obgleich für alle bis heute noch ein Rätsel ist, wie man sich das genau vorzustellen hatte bei ihm. Blieb deshalb sein Zimmer immer verschlossen? Ich meine »verschlossen« im metaphorischen Sinn, vielleicht schloß er ja nie ab und konnte sich darauf verlassen, daß zumindest jemand wie ich seinen Höllenhort nie betreten würde, auch wenn die Tür gar nicht abgesperrt war. Mit der Großmutter, seiner Mutter, hatte er wohl die unausgesprochene Übereinkunft, daß sie da nicht weiter herumstöbere, damit sie gar nicht erst finden konnte, was sie nicht finden und nicht wissen wollte. Ich selbst weiß nur, daß die Putzfrauen mit ihm Schwierigkeiten hatten (auch so ein Wort: Schwierigkeiten); er näherte sich, wird erzählt, immer von hinten, wenn diese sich bückten, und auch das Tante Lenchen hatte mit ihmBegegnungen dieser Art, obgleich sie zehn Jahre älter war als er und zum Schluß schon über siebzig. Tatsächlich stand er noch im hohen Alter hinter ihr und griff ihr, seinem inneren Wesen folgend und von Gott dafür geschaffen, an den Busen, was allerdings weder zu seinem noch dem Leben Tante Lenchens paßte, es hätte denn in freier Wildbahn stattfinden müssen. Und deshalb gab es natürlich den üblichen Aufruhr, als J. einmal mehr seiner Natur nachkam und dem Tante Lenchen von hinten an die Brüste faßte, als gehörten sie ihm und als habe er ein Anrecht darauf.
    Ich habe das Zimmer J.s nie betreten. Wahrscheinlich hat auch das Tante Lenchen dieses Zimmer nie betreten. Ich vermute sogar, daß selbst J.s Mutter dieses Zimmer nur äußerst selten und nur in wirklichen Notfällen betreten hat, denn vielleicht war ja nicht einmal sie wirklich durch die besagte Ehrfurcht geschützt, die J. ihr gegenüber an den Tag legte. Auf seine Mutter ließ er nichts kommen, auf ihren Busen möglicherweise schon, das könnte sein. Und da hat man dann zu Hause so etwas wie einen Ziegenbock als eigenen Sohn, der immer noch bei einem wohnt und bereits ein alter Mann wird, und dennoch springt er herum und auf einen hinauf, wenn auch nur selten. Sein Zimmer war eine Art frühester Darkroom in meinem Bewußtsein. Als Kind war ich zwar oft im Haus meiner Großmutter, zumal nach dem Tod meiner Urgroßmutter Else, die sich hauptsächlich in denersten Jahren um mich gekümmert hatte, aber von J.s Zimmer habe ich keinerlei Bild vor Augen. Ich weiß nicht, wo das Bett stand, und es muß doch eines gegeben haben, und was sich sonst so im Zimmer befand, weiß ich auch nicht. Ich kann mir dieses Zimmer einfach nicht vorstellen. In den Jahren des Gestanks in es einzutreten wäre die Hölle gewesen. Ich wäre vor Ekel gestorben. Ich hatte nicht einmal Angst davor: Da es völlig unvorstellbar war, dieses Zimmer zu betreten, lag das Vorhandensein dieses Zimmers sozusagen unter meiner Wahrnehmungsschwelle. Es war da und zugleich nicht da. Da J. meistens schlief, muß es fast immer schwarz in dem Zimmer gewesen sein. Heute ist es mein Arbeitszimmer. Immer habe ich Romane in diesem Zimmer geschrieben, aber ich bin bislang nie
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