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Das zarte Gift des Morgens

Das zarte Gift des Morgens

Titel: Das zarte Gift des Morgens
Autoren: Tatjana Stepanova
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ihm über gar nichts mehr. Ich habe mich längst an alles gewöhnt, Mariascha«, antwortete Aurora. »Aber ich habe trotzdem gut geschlafen. Wie ein Murmeltier.«
    »Na, Gott sei Dank, dann ist ja: alles in Ordnung«, sagte Maria herzlich. »Dann ruh dich heute gut aus.«
    Aurora lehnte sich in die Kissen zurück. In dieser engen, düsteren Wohnung in Tekstilschtschiki war sie geboren. Hier hatte nach dem Tod des Vaters ihre Mutter gelebt. Gussarow hatte diese Wohnung nicht gemocht, sich vor ihr fast schon geekelt. Hierher war sie nun mit den Kindern gezogen, nachdem sie sich endgültig von ihm getrennt hatte. Verglichen mit dem Landhaus in Nemtschinowka war diese Wohnung armselig und schäbig, aber das war nicht so wichtig. Vorläufig konnte sie hier bleiben, und bald würde sie für sich, ihre Kinder und ihre Mutter eine schönere Wohnung kaufen. Und dafür würde sie ihren Ex-Mann nicht mal um Geld anbetteln müssen.
    Aurora schloss die Augen – Meer, das in der Sonne funkelte, Sand . . .
    Jetzt müsste man wegfahren können. Irgendwohin. Irgendwohin hieß für sie – nach Marokko. Eine Woche, in der sie alles vergessen konnte – die Streitereien ums Geld, die Kränkungen, die Leere, die Einsamkeit, den Hass – seinen Hass, der ihr keine Luft zum Leben ließ . . .
    Mein Gott, woher kam dieser Hass nur? Sie hatte ihn doch so geliebt – aufrichtig und von ganzem Herzen. Alles hatte sie ihm verziehen – seine Affären, die Nächte außer Haus, die Reisen ins Ausland ohne sie, nie hatte sie aufgemuckt. Aber trotzdem war er immer unleidlicher geworden. Manchmal hatte er sie aus keinem anderen Grund geschlagen als dem, dass sie da war – neben ihm auf dem Sofa saß, dieselbe Luft atmete wie er. Hatte er sie vielleicht zu hassen begonnen, als er begriff, dass sie mit ihren zweiunddreißig Jahren bereits ausgebrannt war und sich von einem vielversprechenden Nachwuchsstar in eine langweilige Durchschnittssängerin verwandelt hatte? Hasste er sie für diese betrogenen Hoffnungen auf Erfolg und das große Geld? Aber wie kann man die eigene Frau hassen, die ihre Karriere für Kinder und Ehe geopfert hat?
    Wahrscheinlich kannte sie ihren eigenen Mann einfach nicht gut genug. Sie hatte nicht geahnt, was für ein Mensch Dmitri Gussarow war. Überhaupt war es typisch für sie, dass sie sich in anderen Menschen irrte. In Maxim Studnjow zum Beispiel hatte sie sich auch bitter getäuscht. Am Anfang ihrer Bekanntschaft war er ihr wie der ideale Mann vorgekommen, wie der Mann ihrer Träume . . .
    Nein, genug davon, es gab nur einen Weg, das alles zu vergessen – wegfahren, fliehen, weit fort übers Meer in das Land im fernen Westen, das in Wirklichkeit der wahre Osten, der echte Orient war und wo alles ganz anders war als hier, sogar die Zeit eine andere war, wo es morgens nicht nach dem Qualm von brennendem Torf stank, sondern nach Kaffee und Zimt duftete, nach Rosen und salzigem Meer, wo man ruhig auf einer steinernen Bank an einem stillen, menschenleeren Kai sitzen und die untergehende Sonne betrachten konnte, bis sie hinter dem Horizont verschwand und starb.

4
    Der erste Arbeitstag nach dem Urlaub ist bitter wie Wermut. Der erste Arbeitstag nach einem Urlaub, den man am Meer unter der heißen Sonne des Südens verbracht hat, ist nicht nur bitter – er ist vergiftet von den Erinnerungen an das verlorene Glück.
    Katja Petrowskaja, verheiratete Krawtschenko, Kriminalreporterin im Pressezentrum des Polizeipräsidiums, fühlte sich an ihrem ersten Arbeitstag nach zwei Wochen Urlaub wie der unglücklichste und elendeste Mensch auf der Welt. Gestern war alles noch real gewesen – der Strand, das Meer, das laute Sotschi, berauschende, verrückte Beschäftigungen wie der Kauf eines schicken Bikinis oder einer extravaganten Sonnenbrille. Über Nacht hatte sich das alles in eine Fata Morgana verwandelt, von der man zwischen Tür und Angel ein paar Kollegen im Pressezentrum erzählte, die selbst noch nicht im Urlaub gewesen waren und sich nicht einmal vorstellen konnten, was das hieß – zwei Wochen Freiheit. In der dünnen Luft des Dienstalltags löste sich die Fata Morgana auf wie Rauch.
    In Sotschi war Katja zusammen mit ihrem Mann Wadim Krawtschenko gewesen. Katja hatte nur zwei Wochen frei bekommen, Krawtschenko dagegen durfte einen vollen Monat auf der faulen Haut liegen. Gerade als es am schönsten war, tauchte unverhofft ihr Jugendfreund Sergej Meschtscherski in Sotschi auf, zusammen mit einer ganzen Meute von Bekannten
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