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Das zarte Gift des Morgens

Das zarte Gift des Morgens

Titel: Das zarte Gift des Morgens
Autoren: Tatjana Stepanova
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Brüstung der Loggia und nahm Maß.
    »Ja, das könnte hinkommen. Seine Größe kann eine entscheidende Rolle gespielt haben«, sagte er. »Hinuntergestoßen hat ihn jedenfalls niemand. Er war allein in der Wohnung. Also ist er von selbst gefallen, nur . . .«
    »Was?«
    »Wieso liegt dann die Lampe auf dem Boden? Und wieso sind der Tisch und das Bänkchen umgekippt? Wir haben ein Poltern gehört – das war vermutlich, als die Lampe umfiel. Wieso hat er diese Sachen umgeworfen?«
    »Na, er war besoffen oder zugedröhnt. Unzurechnungsfähig. In so einem Zustand stößt man leicht an irgendwelche Sachen und wirft sie um.«
    »Unzurechnungsfähig? Weißt du, Kostja, ich würde außer einer Autopsie auch gern eine gründliche chemische Untersuchung durchführen lassen. Eine biochemische«, sagte Kolossow. »Und wenn auch nur deshalb, um herauszufinden, welchen Wein er vorher getrunken oder was er sich gespritzt hat.«
    »Klar doch, wird gemacht, kein Problem.« Lessopowalow nickte gehorsam.
    Seit er zu der Überzeugung gekommen war, dass sie es hier nicht mit Mord zu tun hatten, war seine Laune erheblich besser geworden. In dem friedlichen Stolby mochte man Morde nicht besonders.

3
    In der Nacht träumte Aurora wieder vom Meer – es war grün und glitzerte im Sonnenlicht. Der Sand war glühend heiß. Genau wie damals in der Wüste, als sie in Jeeps auf Safari gefahren waren – sie war aus dem Auto gestiegen, auf eine Wanderdüne geklettert und hatte sogar noch durch die Sohlen ihrer Turnschuhe gespürt, wie brennend heiß der Sand war.
    Das war während ihres Urlaubs in Marokko gewesen. Am liebsten wäre sie wieder dorthin gefahren, allein, ohne die Kinder, um all das wiederzusehen, was in der letzten Zeit ständig in ihren Träumen auftauchte: die violette Bergkette des Atlasgebirges am Horizont, die weißen Kappen des ewigen Schnees, die roten Lehmmauern der alten Wüstenstadt, die schattigen, gewundenen Gassen, wo man um die Mittagszeit keine menschliche Stimme hörte, nur das Gurren der Tauben, den dämmrigen Laden des Souvenirhändlers, wo sie und ihr Mann vor acht Jahren einen reizenden kleinen arabischen Tisch für ihre erste Wohnung gekauft hatten, zusammen mit einer kupfernen Lampe, in der ein Dschinn wohnte.
    Nichts davon war Aurora geblieben – nicht die Wohnung, die verkauft worden war, als die ganze Familie in ein riesiges Haus auf dem Land gezogen war, nicht der arabische Tisch, den man zu Kleinholz gemacht hatte, nicht die Lampe mit dem Dschinn – er war in seinem Kerker gestorben, ohne sich ein einziges Mal gezeigt zu haben –, und auch der Ehemann nicht. . .
    »Ach, Dima, Dimotschka, ich habe dich doch all diese Jahre geliebt. . .«
    »Ich habe dich satt bis obenhin! Und ich garantiere dir, du kriegst noch jede Menge Ärger, du Miststück . . .«
    So hatte ihr Mann sie gestern am Telefon angeschrien. Seine Stimme hatte vor Hass gezittert. Und sie hatte Angst bekommen. Richtige Angst.
    Mit Dmitri Gussarow, ihrem Mann, hatte sie acht Jahre zusammengelebt. Er war in seinem Beruf sehr erfolgreich, ein geborener Showman. Seiner Energie, seinen Verbindungen und seinem Geld verdankte es Aurora, dass sie sich in den vergangenen schwierigen Jahren über Wasser gehalten hatte. Sie war Sängerin, hatte eine professionelle Ausbildung. Als Kind hatten die Eltern sie auf eine Musikschule geschickt, dann auf die Hochschule für Musik. Sie hatte keine große, aber eine wohlklingende Stimme.
    Ihre ersten Auftritte auf Moskauer Bühnen vor zwölf Jahren hatte kaum jemand beachtet. Und wahrscheinlich wäre auch weiter nichts passiert, hätte sie nicht bei einem unbedeutenden Konzert der Produzent Gussarow gesehen. Sie lernten sich kennen. Fast sofort schlug er Aurora gegenüber einen schlichten, freundschaftlichen Ton an. Wenn du dich an mich hältst, sagte er, mache ich einen Star aus dir. Anfangs traute sie ihm nicht. Wer hätte das wohl auch geglaubt – »ich mache einen Star aus dir«? Aber er investierte sofort Geld, kaufte für sie die Rechte an dem Schlager »Ljubow«, und diese »Liebe«, die sie auf Russisch und auf Englisch für ein Internet-Album sang, wurde zu aller, auch ihrer eigenen, Überraschung ein Hit und belegte den zweiten Platz in der Bestenliste von MTV.
    Gussarow produzierte sofort eine CD mit ihr und organisierte eine Konzerttournee durch das Kusnezker Becken und das Wolgagebiet. Nach einem Konzert in Tscheljabinsk bat er sie, seine Frau zu werden. »Ich mache dich zur berühmtesten
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