Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das zarte Gift des Morgens

Das zarte Gift des Morgens

Titel: Das zarte Gift des Morgens
Autoren: Tatjana Stepanova
Vom Netzwerk:
keine Schuhe. An seinem rechten Handgelenk funkelte ein massives Goldarmband.
    Dass der Mann tot war und keinen Notarzt mehr brauchte, sah man auf den ersten Blick. Nikita untersuchte die Leiche sorgfältig. Trotz der schlechten Beleuchtung konnte er erkennen, dass der Tote keine Wunden oder andere äußere Verletzungen aufwies. Nur einige Hautabschürfungen waren zu sehen, die wahrscheinlich vom Aufprall des Körpers auf dem Asphalt herrührten. Ein feines Rinnsal Blut sickerte dem Toten aus dem Mundwinkel.
    »Ex?«, fragte Lessopowalow finster. »Vermutlich hat er sich den Hals gebrochen.«
    Nikita schaute nach – er war zwar kein Mediziner, aber ihm schien, als sei mit dem Hals des Toten alles in Ordnung. Allerdings . . .
    »Mit den Muskeln stimmt etwas nicht«, sagte er zu Lessopowalow. »Fühl mal selbst. Für die Totenstarre ist es noch zu früh, aber der Körper ist schon ganz verhärtet.«
    »Ich hab mit solchen Kunstspringern noch nie zu tun gehabt, Nikita.« Lessopowalow räusperte sich verlegen. »Woher soll ich wissen, wie sich jemand anfühlt, der aus dem siebten Stock gehechtet ist?«
    »Schau dir mal seine Arme an.« Kolossow hob vorsichtig einen Arm des Toten – er blieb starr. Die Finger waren verkrümmt wie die Klauen eines Reptils.
    »Na, gleich kommt ja der Arzt und . . . ach, verdammt!«
    »Was ist?«
    »Bei uns ist es üblich, dass nur bei einem offensichtlichen Verbrechen ein Gerichtsmediziner gerufen wird. In allen anderen Fällen bringen wir die Leiche sofort ins Leichenschauhaus.«
    »Du meinst, er ist freiwillig gesprungen? Ein Selbstmörder?« Kolossow blickte am Haus empor, aber weiter oben versank alles im Dunkel. Dann beugte er sich wieder über den Körper. »Wie dumm, wir haben in der Eile die Taschenlampe vergessen . . . Leuchte mir doch mal mit dem Handy, ich möchte ihm in die Pupillen sehen.«
    »Vielleicht ein Fixer?« Lessopowalow kauerte nieder und betastete den Toten. »Der ist ja hart wie ein Brett. He, Nikita, vielleicht ist er krank? Wie heißt das doch gleich . . . Starrkrampf? Oder Epilepsie?«
    Ein Kleinbus der Miliz fuhr vor, in dem drei Männer saßen – der Chauffeur und zwei Einsatzleute.
    »Wir müssen in die Wohnung.« Lessopowalow ging auf die eiserne Haustür zu und donnerte mit der Faust dagegen, ohne auf die Gegensprechanlage Rücksicht zu nehmen. »Aufmachen, Miliz!«
    »He, was macht ihr da für einen Radau, Jungs?«, brüllte jemand von oben mit heiserem, verschlafenem Bass. »Wisst ihr, wie spät es ist? Erst schmeißen sie Stühle aus dem Fenster, dann krakeelen sie herum . . . Ich hole gleich die Miliz!«
    »Wir sind ja schon da, öffnen Sie bitte die Haustür!«
    »Was ist denn passiert?«
    »Einer Ihrer Nachbarn ist vom Balkon gefallen!«
    »Was für ein Nachbar?«
    »Will der uns für blöd verkaufen?«, brauste Lessopowalow auf. »Randalieren Sie nicht, Bürger, öffnen Sie der Miliz die Tür!«
    »Ihr randaliert hier um drei Uhr nachts, nicht ich!«, kläffte der Bürger von oben zurück. »Miliz! Dass ich nicht lache. Ich mache euch auf, und dann raubt ihr hier die Wohnungen aus. Das halbe Haus steht ja leer, alle sind auf ihre Datschen gefahren.«
    Schließlich wurde ihnen die Haustür von einer mitleidigen alten Frau aus dem vierten Stock geöffnet, die der Lärm aufgeweckt hatte. Wäre sie nicht zu Hilfe gekommen, hätte sich alles vermutlich noch bis zum Morgengrauen hingezogen.
    »Falls da oben in der Wohnung ihm jemand beim Runterfallen behilflich war, ist der jetzt längst über alle Berge«, meinte Lessopowalow verdrossen.
    »Aber aus dem Haus ist niemand herausgekommen«, sagte Kolossow.
    »Vielleicht war es ja ein Nachbar? Beweis dann mal, ob der bei ihm war oder nicht. Vielleicht haben sie zusammen getrunken . . .«
    »Ja, nach Alkohol hat er allerdings gerochen. Ziemlich stark sogar.«
    »Na also, sie haben getrunken, dann kam’s zum Streit. Erinnerst du dich – wir haben doch was poltern hören. Dann hat der eine den anderen im Suff hinuntergestürzt. Und ausgerechnet in diesem Moment mussten wir reingehen, um die Liege zu holen!«
    Doch als sie endlich die Wohnung Nr. 148 in der siebten Etage betraten, wurde klar – Lessopowalows Schlussfolgerungen waren verfrüht gewesen.
    Sie mussten erst eine Weile warten, bis zivile Zeugen gefunden waren und der Chef des Milizreviers eintraf. Dann stellte sich heraus, dass man auch die Feuerwehr holen musste. Kolossow versuchte zunächst vergeblich, die Tür selbst zu öffnen – es war eine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher