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Das zarte Gift des Morgens

Das zarte Gift des Morgens

Titel: Das zarte Gift des Morgens
Autoren: Tatjana Stepanova
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hell.
    »Hab ich. Na, genehmigen wir uns noch einen, bevor wir uns in die Falle hauen?«
    Lessopowalow holte aus der Küche eine Flasche und Gläser. Beide blieben lieber auf dem Balkon – eine kühle Brise brachte Erfrischung. Im Haus gegenüber war alles ruhig. Fast überall war es dunkel, nur in zwei oder drei Fenstern brannte noch Licht.
    »Sieh mal.« Lessopowalow schüttelte den Kopf. Er hatte blondes Haar, das zu einem modischen Igel geschnitten war.
    »Was meinst du?«, fragte Nikita.
    »Nichts Besonderes. Die Leute dort drüben. Sie schlafen auch nicht. Sie atmen.«
    »Atmen?«
    »Sie holen sich ihren Vorrat an Sauerstoff. Aber vielleicht sind es auch Verliebte.« Lessopowalow seufzte träumerisch. »Wera und ich sind früher auch die ganze Nacht herumspaziert. Bis zur Morgendämmerung . . . Einmal hatte ich eine Autopanne, da haben wir den Wagen direkt an der Straße stehen lassen und sind zu Fuß gegangen, und plötzlich machte es krack, und der Absatz von Weras Sandalette war abgebrochen. Da sagt sie zu mir – trag mich nach Hause. Na, und ich hab sie auf die Arme genommen und getragen . . . Ich war jung. Jetzt kommt es mir vor, als hätte nicht ich, sondern jemand anders all das erlebt. Und mir ist so traurig . . . Wera ist kein schlechter Mensch, aber sie hat einen schwierigen Charakter. Und meine reizende Schwiegermama sieht auch zu, dass sie nicht zu kurz kommt. . . Alles hat sich so ganz anders entwickelt, als ich dachte. Na, und du?«
    »Was?«
    »Hast du keine Absichten, dich zu binden?«
    »Ich hab’s nicht so eilig, Kostja.«
    »Recht hast du. So was sollte man nicht übers Knie brechen.«
    »Holen wir die Liege«, sagte Kolossow.
    Da wurde die Stille der Nacht plötzlich von einem lauten Krach zerrissen – irgendwo war etwas heruntergefallen und zerbrochen.
    »Was war das?« Lessopowalow blieb stehen. »Wo kam das her?«
    »Von dort, glaube ich.« Kolossow zeigte auf das Haus gegenüber. In einem Fenster im siebten Stock flammte Licht auf.
    »Ob dort eine Rangelei im Gange ist?«, vermutete Lessopowalow. »Nein, scheint alles ruhig zu sein.«
    Sie warteten aus purer Neugier etwa fünf Sekunden lang -nein, nichts. Das Haus schlief. Da verließen sie den Balkon und holten die Klappliege aus der Abstellkammer, und Lessopowalow machte sich auf die Suche nach der Bettwäsche, die seine Frau in eine andere Schublade einsortiert hatte. Kolossow ergriff die ihm von seinem Freund zugeteilte Matratze, und gemeinsam schleppten sie Liege, Bettwäsche und Kissen auf den Balkon. Nikita versicherte, das Bett könne er sich selber machen, aber Lessopowalow erklärte, der Gast sei König und überhaupt sei es nicht Männersache, sich mit Bettbezügen herumzuschlagen.
    Während sie noch mit gedämpften Stimmen diskutierten und mit der halb auseinander gespreizten Liege am Türpfosten hängen blieben, erschütterte plötzlich ein heiserer Schrei die schlafenden Häuser. Dann schlug dumpf etwas Schweres auf dem Asphalt auf.
    Vor Überraschung blieben sie wie angewurzelt stehen. Nikita beugte sich über die Balkonbrüstung – unten, neben einem geparkten weißen Niwa, lag etwas Dunkles. Im Haus gegenüber ging in mehreren Fenstern das Licht an.
    »Verflucht. . .« Lessopowalow stieß einen leisen Pfiff aus.
    Ein Lichtfleck fiel aus den Fenstern im ersten Stock auf den Asphalt. Nun konnte man deutlich sehen: Neben dem weißen Niwa lag ein Mensch.
    »Ich laufe nach unten, ruf du inzwischen den Notarzt und das Revier an.« Kolossow ließ die Liege fallen. »Vielleicht lebt er noch.«
    »Sieh mal dorthin«, flüsterte Lessopowalow, »dort drüben, im siebten Stock . . .«
    Neben einem hell erleuchteten Fenster im siebten Stock war eine offene Loggia mit einem Fenster dahinter zu sehen. Vor fünf Minuten, als sie den Balkon verlassen hatten – Nikita erinnerte sich genau –, war die Loggia noch dunkel gewesen. Jetzt wurde sie von dem im Zimmer brennenden Licht schwach beleuchtet. Und noch etwas Seltsames, Nikita erkannte es erst auf den zweiten Blick: eine weiße Gardine, die durch die Balkontür auf die Loggia geweht worden war. Ein kurzes Stück Stoff baumelte von der Brüstung der Loggia, als hätte sich jemand mit letzter Kraft an diesen dünnen Fetzen geklammert. . .
    Kolossow rannte nach unten.
    Es war ein junger Mann, der dort reglos auf dem Asphalt lag, etwa dreißig Jahre alt. Muskulös, braun gebrannt, dunkles Haar, schlank. Außer der Unterhose und einer grauen Jogginghose trug er keine Kleidung, auch
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