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Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]

Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]

Titel: Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
Autoren: Liane Sons
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zur Erhaltung der Art, aber als lästig an. Der Turm-Älteste suchte die Paarungen danach aus, welche Fähigkeiten gut zueinanderpassten, und hinterließ dann eine Notiz auf den jeweiligen Pulten. Im Untergeschoss standen schmucklose Räume für die Paarung bereit. Ohne Leidenschaft, sogar ohne die Oberbekleidung abzulegen, beschäftigte man sich mit dem Zeugungsakt. Danach ging man wieder getrennter Wege. Frauen blieben bis zum Einsetzen der Wehen an ihren Pulten und standen schon wenige Tage nach der Geburt wieder daran. Väter wussten in der Regel nicht einmal, ob sie Jungen oder Mädchen gezeugt hatten. Die Kinder wurden auch nicht von den Eltern betreut, sondern von Minderbegabten versorgt und von Gelehrten erzogen, die keine Schwierigkeit damit hatten, mehr als zehn Sätze am Tag zu sprechen.
    Im Haus der Gelehrten herrschten Disziplin und Ordnung. Einem einkehrenden Besucher hätte sich in jedem Zimmer ein ähnliches Bild geboten: Männer und Frauen standen schweigend über Schriftrollen oder Bücher gebeugt und lasen oder schrieben. Die lautesten Geräusche waren das gelegentliche Knistern des Pergaments und das Kratzen einer nicht gut gespitzten Feder. Schon Hüsteln oder Räuspern wurde hier mit bösen Blicken bedacht.
    Nur im Turm selbst gab es nicht ein einziges Schriftstück und auch keinerlei nützliche Einrichtung. Allein an der Westseite des hohen Raums stand die aus grauem Stein gearbeitete, lebensgroße Statue einer Frau mit langen Haaren und fließenden Gewändern: Dala, Ahnfrau aller Gelehrten.
    Vor ihr kniete ein Mann mit kinnlangen, nicht unbedingt sorgfältig geschnittenen schwarzen Haaren, der, wie seine Brüder, in eine braune, knielange Kutte über weiten Hosen gekleidet war. Eine lange Zeit hatte Gideon Montastyre in tiefer Versunkenheit verbracht. Jetzt erhob er sich langsam, nahezu mühevoll, streckte ächzend seine verkrampften Glieder und sah zur Statue seiner Schutzheiligen auf. »Dala, Mutter aller Verianer, habt ein Einsehen! Wie soll ich zwei fremde Menschen dazu bringen, mit mir ins Wintergebirge zu gehen, um die Wintergöttin aufzusuchen, wenn ich ihnen noch nicht einmal sagen kann, zu welchem Zweck? Niemand geht ohne Not ins eisige Gebirge. Seid nicht ungeduldig mit Eurem unwürdigen und ängstlichen Nachfahren, aber mir selbst graut vor dieser Aufgabe schon mehr, als ich sagen kann. Wie soll ich da jemanden davon überzeugen können, mich zu begleiten?«
    So sehr er auch in sich hineinhorchte, er hörte nichts.
    Seine Brüder und Schwestern hätten sich spätestens jetzt demütig verneigt, um den Wünschen der Ahnfrau Folge zu leisten, aber Gideon war ein untypischer Verianer, denn er redete gern und viel.
    Nun legte er den Kopf schief und betrachtete das Standbild. »Ihr schweigt? Vergebt mir! Ich bin ein Zweifler und schrecklicher Feigling, aber Eure Hinweise sind auch denkbar dürftig. Es scheint mir ja noch durchführbar, die Priesterin von der Nebelinsel zu finden. Aber wie soll ich sie dazu bringen, mir nach Kairan zu folgen, und wie soll ich selbst dorthin gelangen? Wir müssten lange Zeit durch das Land der Schwarzen Horden ziehen, um dann unter der kalten Sonne des Nordens einen da’Kandar-Prinzen zu treffen, den es allen Berichten zufolge seit fünfzehn Jahren nicht mehr geben dürfte. Und ausgerechnet ich Büchergelehrter soll diese Aufgabe meistern und darf mich nicht um Hilfe an kampferprobte Recken wenden. Gebt zu, Herrin: Das ist viel verlangt! Ich will ja Euer guter Diener sein, aber Ihr macht es mir zu schwer. Wenn Ihr schon so freundlich seid und mir sagt, der Weg sei bereitet, dann könntet Ihr Euch doch auch dazu herablassen, mir zu offenbaren, wie dieser Weg aussehen wird.«
    Er schwieg erneut eine ganze Weile und seufzte dann bekümmert auf. »Ihr zürnt mir? Ihr seid die Mutter des Wissens. Da kann es Euch doch nicht verwundern, wenn Euer Nachfahre auch gern etwas wüsste. Um Eure Aufgabe zu erfüllen, braucht es Helden. Seht mich an! Mein Leben habe ich damit verbracht, zu lesen und zu schreiben. Meine Hände haben selten etwas Schwereres getragen als eine Laute. Meine Muskeln sind gerade einmal in der Lage, meinen Körper aufrecht zu halten, und, was Heldenmut betrifft, so fröstelt es mich schon, wenn ich nur lange genug von ihm lese. Oh, Herrin, Ihr mutet einem reinen Hasenfuß wie mir schon eine Menge zu.«
    Er schloss die Augen und wiegte seinen Oberkörper eine Zeitlang hin und her. Schließlich öffnete er sie wieder, seufzte erneut tief auf,
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