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Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Titel: Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
Autoren: Ulrike Edschmid
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einem Bündel am Stock, das auf der Schulter hin- und herschwankt wie eine Sense. Als der Wanderer schließlich mit seinem Bündel das graue Haus erreicht, streift er sich lange die Füße ab auf einer Stufe, an der kein Fußabtreter zu sehen ist. Aber es ist kein So-tun-als-ob, er täuscht nichts vor. Wenn er auf der Stelle tritt, versucht er Boden unter den Füßen zu gewinnen. Er hat Angst. Man hört es an seiner Stimme, als er um Einlass bittet. Dann schiebt sich ein Text ins Bild. Drei einfache Sätze wie der Beginn eines Märchens mit einem Versprechen, das nie eingelöst wird.
    Philip S. hat keine Geschichte erzählt. Bruchstücke interessieren ihn mehr als eine Story. Das Fragment entspricht seinem Lebensrhythmus. Kein Ganzes, kein Fluss. Statt eines genauen Drehbuchs hat er Bilder vor Augen, an deren Details er feilt, bis sie für ihn stimmen. Keiner weiß, was für ein Film gedreht wird. Auch für Philip S. ist der Ausgang ungewiss. Als Regisseur ist er Fragender und Zuhörer zugleich. Die meisten Dialoge entstehen erst in langen Gesprächen, während sich die Darsteller in der modrigen Kälte ungeheizter Räume an dem Tee wärmen, den ich ihnen bringe. Die Kälte steigt in die Gesichter, in die Bewegungen.
    Die Darsteller wissen nicht, was sie darstellen sollen. Es erschließt sich ihnen nicht, weder aus einer vorangegangenen noch aus der folgenden Sequenz. Sie füllen keine Rollen aus, denen sie sich annähern könnten. Mit jeder Szene geraten sie in eine neue Fremdheit. Und sie warten Stunde um Stunde, wenn Philip S. mit dem Darsteller des Wanderers in dessen Kindheit eintaucht und sich Szenen und Dialoge entwickeln, die an lang zurückliegende Erinnerungen rühren. Gebete, mit denen er, das adoptierte Kind, aufgewachsen in einem fremden Land, die Angst besiegte, fallen dem Darsteller wieder ein, Liedstrophen und Verse, wenn er in den Sog des grauen Hauses, in das bedrohliche Verwirrspiel seiner Bewohner gerät. Da hört er Schritte, die er eigentlich gar nicht hören kann. Er richtet ein Teleskop auf Geschehnisse, die sich noch gar nicht ereignet haben. Das Unheimliche steigt auf, weil nichts stimmt. Es steigt auf aus dem Vertrauten, das nicht vertraut bleibt.
    Das Bedrohliche nimmt keine Gestalt an, es bleibt nur eine Ahnung, anwesend in allen Figuren, von denen keine ist, was sie zu sein vorgibt. So bleibt ein Blinder kein Blinder. Ein Knabe ist zugleich eine Frau. Der Wanderer könnte alles sein, Verschollener, Zurückkehrender, verlorener Sohn, Eindringling, einer der Unheil bringt. Eine schöne Hausherrin wird zum Vampir. Dann wieder ist sie ein armes Mädchen, und am Ende holt sie der Tod. Der Hausherr ist zunächst Freund des Wanderers und summt ihm gegen das Rauschen der Bäume eine Passage aus demzweiten Satz des B-Dur-Streichsextetts von Brahms vor. Dann ist er selbst Besucher und steigt aus einem kleinen englischen Sportwagen, um sich im Inneren des Hauses auf einer breiten Treppe einsamen Exzessen hinzugeben, indem er wie rasend mit einer Peitsche auf die Schnauze eines Porzellanhundes einschlägt. Er hatte es als Spiel begonnen, die Peitsche locker in der Hand wie einen Dirigentenstab. Was dann aber wie eine Geißelung aus ihm herausbricht, weiß nur er selbst. Niemand stoppt ihn, nicht der Regisseur, nicht der Kameramann, der weiter dreht. Je mehr der Darsteller außer sich gerät, umso größer und länger holt die Kamera die Hundeschnauze in den Vordergrund, verstörend, nackt und bleich.
    Nur der Wanderer kehrt in dem Spiel nicht eingelöster Erwartungen zu dem zurück, was ihm zu Beginn aufgetragen schien – Bote aus dem Schattenreich zu sein. Wenn er am Ende als Fährmann des Todes den Nachen durchs Gehölz das mythische Wasser hinabstößt, trägt er unter dem weiten Umhang noch immer den Gürtel, den Kälbergurt, den Philip S. nach den Dreharbeiten wieder selbst anlegen wird, bis er ihm sieben Jahre später endgültig vom Leib genommen wird.

V
    Nach der letzen Einstellung strebt alles auseinander. Der ovale Tisch, Sessel, Kerzenleuchter, ein goldenes Sofa und Kleider, die die schöne Hausherrin getragen hatte, werden in meine Wohnung zurückgebracht. Auf dem Rückweg vom Drehort in die Stadt wird der Darsteller des Hausherrn in seinem Auto aus unerklärlichen Gründen ohnmächtig und fährt gegen eine Hauswand. Im Krankenhaus wacht er wieder auf. Er bleibt eine Weile dort, ohne dass man den Grund für seine Ohnmacht herausfindet. In den Jahren danach tut er alles, um in
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