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Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Titel: Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
Autoren: Ulrike Edschmid
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ihn vor allem Andy Warhol und von den Regisseuren Jean-Luc Godard, dessen Film Pierrot le fou ein Meilenstein sei. Godard erzähle, schreibt er, von der Wahrheit, vom Leben und vom Tod. »Pour être sur de vivre, il faut être sur de mourir.«
    Zu Semesterbeginn, Anfang September, bringt er seine wenigen Sachen in einem kleinen roten Citroën nach Berlin. Er kommt an wie ein Mensch ohne Hinterland. Er, der Mann der Bilder, besitzt kein Foto aus seiner Vergangenheit, keines, das ihn als Kind oder als Jugendlichen zeigt. Seine Familie, sein Elternhaus, seine Geschichte − von allem hat er sich getrennt, selbst von dem Namen, den die Eltern ihm gegeben haben. Auch seine Freunde lässt er zurück. Nichts davon spielt mehr eine Rolle in den acht Jahren, die er noch leben wird. Selbst seine Sprache bleibt dort, wo er geboren wurde. Bald wird er nur noch Hochdeutsch sprechen mit einem leichten Akzent. Selten unterlaufen ihm noch jene ungewöhnlichen Betonungen von Anfangssilben, an denensich zeigt, woher er kommt. Wenn er in den folgenden Jahren doch hin und wieder in seiner Heimatstadt auftaucht, erscheint er wie ein Fremder oder ein Durchreisender, der lange nicht mehr da gewesen ist.

III
    Nach seinem Tod, will mir scheinen, wird im Haus am Ufer des Zürichsees geschwiegen, als ob es Philip S. nie gegeben hätte. Die Nachricht von der Schießerei in Köln dringt im Morgengrauen an die Öffentlichkeit. Die Polizei weiß noch nicht mit Sicherheit, wer der Tote ist. Die Papiere sind gefälscht. Trotzdem gibt es einen Verdacht. Die Mutter macht sich auf den Weg, um Klarheit zu erlangen. Sie holt ihren Sohn nach Hause zurück. Heute würde ich gerne wissen, ob sie auch seinen Gürtel, den Kälbergurt mitgenommen hat, aber ich habe nie gewagt, danach zu fragen. Frühere Weggefährten, die ihm das letzte Geleit geben wollen, werden abgewiesen. Jetzt gehöre er wieder zur Familie, sagen die Eltern und halten seine Beerdigung geheim. Eingeschlossen in ihre Verstörung, stellen sie keine Fragen, wollen sie nichts wissen über die acht Jahre Leben zwischen seinem Weggehen und seinem Ende, sie wenden sich nicht an die Freunde, auch nicht an mich. Und sie beschließen, keine Antwort zu geben auf Fragen nach den Jahren davor. An Vergangenes solle man nicht rühren. So müssen sie die einzige Wahrheit über das Geschehene dem Polizeibericht entnehmen und den Zeitungen, die ihren Sohn einen Mörder nennen.
    Der Tod löscht das Trennende, heißt es in der Todesanzeige, aber danach scheint es in der Familie niemanden zu geben, der zu ihm steht. Auch der ältere Bruder nicht, in dessen Zügen sich vielleicht der jüngere wiederfinden ließe,wenn er länger als achtundzwanzig Jahre gelebt hätte. Aber der Ältere ist auf der Hut vor dem Toten, der als Terrorist gilt. Für den erfolgreichen Rennfahrer und Rennwagenkonstrukteur ist es eine gefährliche Nähe beim riskanten Geschäft mit der Hochgeschwindigkeit. Der ältere Bruder ist ein Mann, der Vertrauen und Zuverlässigkeit ausstrahlt. Wenn er in Interviews auf die Stationen seiner Karriere in Suzuka, Monza, Le Mans, Mexiko City, Bahrein, Shanghai oder sonst wo angesprochen wird, ist manchmal von seinem Vater die Rede, auch von seiner Frau und seinen Söhnen oder von dem letzten Bruder, dem Jüngsten. Wenn das Wort Familie fällt, merkt man nicht, dass da einer fehlt in der Reihe. Als ob es eine Absprache mit den Journalisten gegeben hätte, stößt das Gespräch nicht an die Leerstelle. Es stockt nicht bei der Jahreszahl 1975, als der Aufstieg des Ältesten in die Weltklasse beginnt, während der andere, abgestiegen in eine undurchschaubare Existenz, auf einem Kölner Parkplatz in seinen Tod rennt. Das Schweigen ist mächtig. Unbefleckt von den Schatten der Vergangenheit, jagen die Rennwagen über die Pisten der Welt. Auf der Karosserie der Name der Familie. Er steht für Tempo, Präzision, Kraft und Sicherheit. Auf den Toten fällt dennoch ein Abglanz von Grand Prix und Formel I. Manche Weggefährten von Philip S. glauben, einen Silberpfeil entdeckt zu haben, aber es ist doch nur ein kleiner englischer Sportwagen, der in seinem letzten Film sehr langsam über den Kies einer Auffahrt rollt.
    Er hatte Affären gehabt, mit Frauen, die jünger waren, und mit Frauen, die Jahre älter waren als er. Aber er hatte noch nie Tag für Tag mit einer Frau und einem Kind zusammengelebt. Jetzt macht er sich klein im Kinderbett und singtmeinem Sohn leise schweizerische Einschlaflieder, die ihm einst
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