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Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Titel: Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
Autoren: Ulrike Edschmid
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war, um Rennfahrer zu werden. Warenlehre, Bilanzkunde, Wirtschaftsgeografie und Handelskorrespondenz aber sind nicht die Sache von Philip S. Ein Jahr vor dem Abitur verlässt er die Schule mit einem durchschnittlichen Zeugnis. Nur in Deutsch erreicht er die beste Note. Er taucht ein in eine Welt der Worte und Bilder. Er zieht an den Waffenplatz. An klaren Tagenkann er von dort über den See bis zu seinem Elternhaus schauen. Aber es ist nicht mehr sein Zuhause, nur noch ein Blick zurück. Aus seinem Zimmer im oberen Stock hat er nichts mitgenommen, außer seiner Kamera.
    Er ist neunzehn Jahre alt. Für eine Modezeitschrift arbeitet er als freier Fotograf, gleichzeitig nimmt er dort eine Halbtagsstelle als Grafiker an, und man bescheinigt ihm professionelle Fähigkeiten. Von seinem ersten Geld kleidet er sich ein. Kleidung ist für ihn mehr als etwas zum Anziehen; er bringt darin sein Anderssein zum Ausdruck, ein Bild von sich selbst, das er in Sorgfalt und Eile entwirft: seine Form des Aufbegehrens gegen die Eltern. Er lässt sich anfertigen, was nicht nützlich ist, was er nicht braucht und was er sich eigentlich nicht leisten kann – drei Hemden mit Monogramm, einen Anzug, Schuhe aus Pferdeleder und den langen schwarzen Mantel aus feinem Tuch. So hat er sich in der Erinnerung derjenigen festgesetzt, die ihn gekannt haben. Mal soll der Mantel einen Pelzkragen gehabt haben wie der von Oscar Wilde, dann wieder soll er aus Samt gewesen sein oder mit Seide gefüttert und vom besten Schneider Zürichs gefertigt, für einen Monatslohn.
    Er dreht seinen ersten Film. Das Drehbuch hatte er mit einem Freund in den letzten Schulferien geschrieben. Der Film läuft im Winter 1967 auf dem Festival von Solothurn. Er umkreise den offenen und leeren Zustand seiner Generation zwischen Arrangement und Opposition, heißt es in der Neuen Zürcher Zeitung . Später hat er den Film irgendwo liegen lassen, auf einem Dachboden, in einem Keller, niemand weiß, wo. Im Frühjahr wird er zwanzig und hat sich für ein Leben als Künstler entschieden. Er bezeichnetsich jetzt als freien Filmschaffenden; auf seinem Briefkopf nimmt er die Wörter »Film« und »Experiment« unter die Lupe, in einem kreisrunden Ausschnitt wiederholen sie sich, vielfach vergrößert.
    Mit einem Maler, der ebenfalls einen langen schwarzen Mantel trug, teilte er sich ein Atelier in Zollikon. Er, sagt der Maler, sei damals sein bester Freund gewesen. Philip S. habe ihn bestärkt, als freier Künstler zu leben, aufopfernd sei er gewesen; von dem, was er bei der Modezeitschrift verdiente, habe er ihn über Wasser gehalten und den Zins für das Atelier bezahlt. Die Eltern hätten ihm nichts gegeben. Er hätte es auch nicht gewollt. Alles in ihm habe sich aufgelehnt gegen sein Elternhaus, diese eiskalte Festung. Ein empfindsamer Mensch sei er gewesen und ein guter Fotograf. Philip S., sagt der Maler, habe ein Foto für das Plakat seiner ersten Ausstellung gestaltet. Drei Tage habe er in der Dunkelkammer gesteckt, bis er damit zufrieden war. Die Vorbilder, die er hatte, überholte er innerhalb kürzester Zeit. Dann ging er nach Berlin, und sie lebten sich auseinander. Aber er habe ihn sehr lieb gehabt, sagt der Maler Jahre später einer Züricher Zeitschrift.
    Philip S. bewirbt sich an der Berliner Filmakademie, die ein Jahr zuvor gegründet worden war. Er wird als Cineast mit hohem Anspruch eingestuft. In seiner Bewerbungsmappe liegen neben Plakaten acht auf Aluminium aufgezogene Siebdrucke seines Freundes, des Malers. Die Bilder, ein Pop-art-Comic über eine Mädchengestalt, stellen ein visuelles Exposé für einen Film dar, den er plant, aber verwirft, als er nach Berlin kommt und ihn die Atmosphäre der immer noch verfallenen Stadt zu einem anderen Film anregt.Die Arbeiten seines Freundes legt er einzeln, jedes sorgfältig in Seidenpapier gewickelt, in eine Kartonschachtel.
    Im Frühjahr 1967 kommt er für eine Woche nach Berlin zur Aufnahmeprüfung. Er schreibt eine mehrere Seiten lange Analyse einer knappen Spielfilmsequenz. Minutiös, Einstellung für Einstellung, rekonstruiert er die Handbewegungen zweier Ausbrecher, die ein Loch in eine Wand schlagen. Nach einem von ihm bewunderten Schriftsteller oder Komponisten befragt, nennt er in einem Atemzug Georg Büchner, Alain Robbe-Grillet, Beethoven, Strawinsky und die Rolling Stones. Er erwähnt weder Schubert noch Brahms, deren Musik er kurz darauf in einem Film einsetzen wird. Unter den bildenden Künstlern beeindruckt
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