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Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Titel: Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
Autoren: Tamar Yellin
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Lederamulette gegen Krankheiten. Hier konnte eine jüdische Frau, wenn sie wollte, eine gebrauchte Ausgabe von Caros Der gedeckte Tisch erhalten, in dem sie alle Vorschriften und Einschränkungen für ihr gesamtes Eheleben dargelegt fand.
    In der Nähe dekorierte Reb Jakob, der Altkleiderhändler,
seinen Stand mit der abgelegten Garderobe der Toten. Er sah nie einem Kunden in die Augen. Er führte seine Geschäfte über dem Psalter und würzte die Verhandlungen mit heiligen Versen. Oft konnte man unmöglich feststellen, ob er mit Gott oder dem Kunden sprach, wenn er in einem Atemzug seinen Zorn über einen Heiden ergoss, die Augen aufhob zu den Bergen und das Loblied auf eine seidene Weste sang.
    Hier versammelten sich die Kinder, wenn Reb Israel der Gerechte sich hinunterbeugte, um Wasser aus dem Brunnen zu ziehen. Er lächelte nie. Er sprach nie. Er fastete an zwei von sieben Tagen jeder Woche. Aber die Kinder liebten es, ihn den Eimer aus der Dunkelheit des Brunnens ziehen zu sehen und darüber zu spekulieren, was wohl diesmal im funkelnden Wasser schwimmen würde.
    Hier, auf einer römischen Steintafel vor der Synagoge, saßen die alten Nichtsnutze, die zum Sterben nach Jerusalem gekommen waren. Sie waren in ihrer Jugend zu Talmudisten ausgebildet worden und hatten kein Handwerk erlernt, aber da sie schlechte Studenten gewesen waren, hatte man nie Verwendung für sie gehabt. Jetzt bestand ihre einzige Einkommensquelle darin, Gebete für die bereits Toten zu sprechen. Im Sommer saßen sie mit ihren Gebetbüchern draußen, murmelten Teile der Liturgie vor sich hin und spuckten den Passanten gedankenverloren vor die Füße. Im Winter machten sie ihre Runden durch die Synagogen und Lehrhäuser und suchten sich immer den Platz, der dem Ofen am nächsten lag. Sie kamen und gingen mitten im Gottesdienst, plauderten während der Lesungen und sangen die Gebete aus voller Kehle. Einige von ihnen hatten speckige Notizbücher, in die sie mildtätige Gaben eintrugen: für die Mitgift mittelloser Bräute etwa oder für eine Anzahlung auf den Druck ihrer gelehrten Schriften, die sie
in ihrer Jugend verfasst hatten und die längst von Mäusen zerfressen waren.
    Manchmal trafen sie sich im nahe gelegenen Badehaus, wo Reb David von Wilna, der Autor des berühmten Almanachs, täglich numerologische Wettbewerbe abhielt. Reb David, der unter anderen Umständen möglicherweise ein großer Mathematiker hätte werden können, war ein außerordentlich fähiger Numerologe. Er hatte sich dieser Leidenschaft schon in seiner Jugend hingegeben und war in späteren Jahren geradezu besessen davon. Im Alter beschäftigte er sich mit nichts anderem als seinen Berechnungen. Selten sah man ihn ohne ein Stück Papier und einen Bleistift, und er hatte den stets himmelwärts gerichteten Blick eines Mannes, der im Kopf Zahlen addiert.
    Jeden Herbst veröffentlichte er einen Kalender mit heiligen Zitaten, deren numerologische Summe dem jüdischen Jahr entsprach. Man konnte sie als Prophezeiungen oder als Kuriosa betrachten. In der Zwischenzeit arbeitete er insgeheim an einem Projekt von weit größerer Bedeutung: dem Datum des Weltuntergangs.
    Da es genügend relevante Verse gab, die sich zu genügend interpretierbaren Summen addieren ließen, um die Apokalypse irgendwo in den nächsten paar tausend Millennien zu vermuten, konnte er der Welt lediglich bestätigen, was sie bereits wusste; aber es ist immer gut, sich noch einmal zu vergewissern.
    In der Morgendämmerung, nach einer Nacht schlaflosen Rechnens, gesellte er sich zu Reb Zalman, dem Nachtwächter, auf dessen Runde durch das Viertel. »Steh auf, heiliges Volk, und diene deinem Schöpfer, gesegnet sei sein Name!«, rief Reb Zalman dann. Dieser war ein frommer Gelehrter und ein Mann mit vielen Ehefrauen. Zur Frau seiner Jugend, seiner ersten, die im Kindbett gestorben war, bewahrte er
die größte Zuneigung. Seitdem war er nie lange Junggeselle geblieben. Heiraten war nicht schwierig. Man benötigte lediglich einen Blankovertrag, den man im Schreibwarenladen kaufen konnte. Sich scheiden zu lassen war komplizierter: Dafür brauchte man einen Dispens der Rabbiner. Den Rabbinern gefielen Reb Zalmans häufige Scheidungen nicht, aber da er alt war und seine Frauen alt waren, ließen sie ihn gewähren.
    Reb Zalman war übertrieben fromm und hatte eigenartige Gewohnheiten, die aber in Jerusalem vielleicht gar nicht so eigenartig erschienen. Er trank seinen Tee kochend heiß, um Mitternacht vor den Toren
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