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Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Titel: Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
Autoren: Tamar Yellin
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sich jedoch alt und verbraucht und hatte das Leben so satt,
wie man es nur mit dreiundzwanzig satthaben kann. Unten am Kai stand die Frau, die er liebte, und winkte.
    Es wurde kein Foto von diesem Anlass gemacht. Niemand hat mir die Szene näher beschrieben. Und doch sehe ich dieses Bild, diesen entscheidenden Moment, deutlich vor mir.
    Aus bestimmten Entscheidungen erwächst alles. Mein Urgroßvater reiste ostwärts und zeugte meinen Großvater. Mein Vater reiste westwärts und traf meine Mutter. Die Spannung zwischen Entscheidung und Zufall bildet den Faden, an dem das Wunder des Daseins hängt.

Viertes Kapitel
     
    Ich kam nachts in Jerusalem an, in der Dunkelheit, nach langer Abwesenheit. Regen rann über die Scheiben des Taxis, als wir von der Ebene ins Bergland fuhren. Draußen waren anfangs noch bunte Schilder zu sehen, ein goldenes Ei, ein Drive-in-Fastfoodladen, ein riesiges Lächeln, umrahmt von blinkenden Lichtern. Wir hätten auch in Amerika sein können. Wir hätten wer weiß wo sein können. Dann waren wir auf der Schnellstraße. Wir waren nirgendwo. Dunkelheit, zusammengekauerte Bäume. Die Luft roch plötzlich anders. Ein Hauch von Benzin und Bitumen, eine Prise Meer oder Wüste. Fremdheit. Regen.
    Als es bergauf ging, schloss ich die Augen und glaubte, die alte Strecke wiederzuerkennen, ihre Anstiege und Kurven, die in meine Erinnerung eingeschrieben sind. Aber die Straße hatte sich verändert. Sie war flacher geworden, hatte sich entwunden und sich zu etwas Unvertrautem gestreckt. Und als ich die Augen aufschlug, sah ich statt der Dunkelheit der Hügel lauter Lichter, Stränge und Trauben von Lichtern, so weit das Auge reichte.

    »Was ist das?«, fragte ich.
    Der Fahrer antwortete: »Das ist Jerusalem.«
    Der Motor kämpfte, und über die Windschutzscheibe rann der Regen in Strömen. Und dann waren wir auf der Straße, die ich wiedererkannte: eine steile Kurve, eine Tankstelle, verfallene Häuser. Dicht am Abgrund stand eine alte Hütte, die dort womöglich schon seit über hundert Jahren am Berg klebte und immer noch nicht in die Tiefe gestürzt war. Von allen Städten der Welt bereitet Jerusalem einem den schäbigsten Empfang, und ob man kommt oder geht, man wird von Gräbern gegrüßt.
    Mein Fahrer hatte die Adresse: Kiriat Shoshan. Er wechselte dauernd die Spur, fuhr bei Gelb über die Ampel und ließ das Radio plärren. Kannte ich die Gegend? Ich hatte schon wieder die Orientierung verloren in diesem Labyrinth aus Verkehr und Asphalt und Hotels und Einkaufszentren, verloren in einer veränderten Stadt. Aber dann erinnerte ich mich wieder, wo wir waren. Wir bogen in einen ruhigen, von Wohnblocks gesäumten Boulevard ein, eine lange, gerade Straße mit einem Heer von Bäumen und einem kleinen Platz am Ende, mit einem Spielplatz, einem Sandkasten und einer Synagoge darauf. Und dort, an diesem Platz, stand das Haus, älter denn je, heruntergekommener und verwitterter; ein Fensterladen hing schief in den Angeln, und die fünf Zypressen, die mein Vater gepflanzt hatte, waren dunkler und dichter als in meiner Erinnerung.
    Dünne Wolken trieben über das Haus. Die Mondsichel hing am zerzausten Himmel. Ich befand mich mit meinem Koffer in vertrauter Umgebung, stand auf einer kleinen Scholle inmitten eines fremden Universums.
    Und am Fenster saß mein Onkel Saul, er kauerte genau so am Küchentisch, wie ich es mir vorgestellt hatte, im Kaftan
meines Großvaters, über den Paraffinofen gebeugt, und hörte Radio. Er stand auf und sah mich durch seine runde Brille an.
    »Hallo, Saul«, sagte ich. »Ich bin’s, Shulamit.«
    Zwanzig Jahre waren nahezu spurlos an ihm vorübergegangen. Er war vorher alt gewesen, jetzt war er älter. Sein Haar war silbern gewesen, und es war immer noch silbern. Er ging wie immer, schlurfend, gekrümmt, jetzt auch noch von den Falten im Kaftan meines Großvaters behindert, der schlaff und zerlumpt an ihm herunterhing und einen morbiden, fauligen Geruch verströmte. Weiß Gott, wo er ihn ausgegraben hatte. Aus der untersten Schublade der bauchigen Walnusskommode vielleicht oder aus dem nach Kampfer riechenden Schrank im hinteren Schlafzimmer. Er trug ihn, nahm ich an, weil er warm war, und vielleicht noch aus einem anderen Grund: Möglicherweise glaubte er, sich dadurch in meinen Großvater verwandeln zu können.
    Er war genau so, wie ich ihn in Erinnerung hatte, ein Mann weniger Worte und weniger, sehr prägnanter Gesten, der das ganze Gewicht von zwanzig Jahren Schweigen und
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