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Das verlorene Land

Das verlorene Land

Titel: Das verlorene Land
Autoren: J Birmingham
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Klaviere ruiniert?«
    Karen Milliner, seine Medienreferentin, stöhnte laut auf, wurde aber von dem vielstimmigen heißeren Gelächter der Räumungsarbeiter übertönt, die sich kaum noch einkriegen konnten. Das machte seine Sicherheitsleute ein bisschen nervös, aber der Riese, der so gern seine Muskeln abknutschte, übertönte alle anderen, als er auf den Staatschef deutete und laut brüllte. »Dieser verdammte Kerl hat mich echt überrumpelt. Das ist der beste verdammte Scheißpräsident, den wir je hatten!«
    Kipper befürchtete schon, der Riese könnte ihn aus lauter Übermut in den Schwitzkasten nehmen. Dann wären die Sicherheitsleute aus gutem Grund nervös geworden.
    Aber nach ein paar Minuten legte sich der Begeisterungsausbruch wieder.
    Nur eine Frau war die ganze Zeit über ziemlich reserviert geblieben. Seine Sicherheitsbeamten hatten sie sicherlich schon bemerkt und behielten sie im Blick, auch wenn man ihre Augen wegen ihrer dunklen Sonnenbrille nicht sehen konnte. Kipper bemerkte den Blick der Frau und lächelte ihr milde amüsiert zu. Ganz offensichtlich gehörte sie nicht zu diesen Raubeinen. Sie hatte feine Gesichtszüge und sah nicht aus wie jemand, der Tag für Tag schwere körperliche Arbeit leistete. Immer wieder stellte er auf seinen obligatorischen Rundreisen fest, dass die »Schaulustigen«, wie seine Tochter sie nannte, ihn in ihren Bann zogen. Die ganze Nation bestand aus Entwurzelten und Verlorenen, und jeder Einzelne hatte seine eigene Geschichte. Es wäre sicherlich spannend zu erfahren, wie der Muskelmann und diese stille Frau dort in die verwilderten
Straßenschluchten von New York gekommen waren, drei Jahre, nachdem die zerstörerische Energiewelle genauso rätselhaft, wie sie gekommen war, auch wieder verschwand.
    »Mr. President«, sagte Karen Milliner, »wir müssen weiter. Der Terminplan, Sie wissen schon.«
    Die Bemerkung der Leiterin der Kommunikationsabteilung, von ihm klammheimlich auch »nervige PR-Tante« genannt, riss ihn aus seinen Gedanken. Er nickte und lächelte den Arbeitern entschuldigend zu.
    »Tut mir leid, Jungs. Ich bin genau wie ihr nur ein Diener der Gesellschaft, und meine Chefin hier …« Er deutete mit dem Daumen auf Karen Milliner. »… meint, dass ich wieder zurück an die Arbeit soll.«
    Die kleine Gruppe buhte ein bisschen, klatschte aber Beifall, als er ihnen zum Abschied zuwinkte und davonging. Seine Sicherheitsleute folgten ihm wie Schatten. Rufe wie »Danke, Mr. President« und »Weiter so, Kip« folgten ihm, während er weiter über den Friedhof schritt, der einstmals das große Amerika gewesen war.
    Bald schon umfing sie wieder das leere Grauen der Ruinen. Schutt und Asche knirschte unter ihren Sohlen, als die Gruppe sich einen Weg durch die verwüstete Wall Street bahnte. Nur das Gurren der Tauben war zu hören. Die Vögel waren als eine der typischen Plagen der Stadt wieder zurückgekehrt. Die Erholung des Ökosystems innerhalb des Einzugsgebiets des Effekts schien alle wissenschaftlichen Prognosen Lügen zu strafen. Büsche und Bäume säumten die Straßen. Das Dröhnen der Kettensägen vermischte sich mit dem metallischen Krachen des schweren Räumgeräts. Eine Menge Arbeit in Manhattan und anderswo bestand darin, Schneisen ins Dickicht zu schlagen, um zu den ausgebrannten Gebäuden oder ineinander verkeilten Schrottautos vorzudringen. Hier sah es nicht so aus wie in den verkohlten Wüsten, die der Feuersturm in
weiten Flächen von Nordamerika hinterlassen hatte. Hier gab es Leben, zumindest von einer bestimmten Art. Er roch den Duft des frisch gefällten Holzes. Anscheinend wollte New York sich wieder in seinen einst stark bewaldeten Urzustand zurückverwandeln.
    Nachdem er die deftigen Sprüche der Abbruchtruppe hinter sich gelassen hatte, versank Kipper in seinen eigenen Gedanken. Er entdeckte einen Lieferwagen mit der Werbung für »Mister Softee«-Eiskrem, der in den Eingang der Citibank an der Ecke Front und Wall Street gerast war. Unter ihm lagen zwei verbeulte Fahrräder. Die vergammelten Kleidungsstücke der verschwundenen Radfahrer waren von spitzen Glasscherben aufgeschlitzt worden. Aber sie waren eben nicht bei einem Autounfall zu Tode gekommen, erinnerte er sich, sondern einfach verschwunden, von einem Moment zum nächsten, genau wie alle anderen Bewohner der Stadt. Genau wie alle anderen Menschen in Amerika, damals vor vier Jahren.
    »Hier war der Verkehr wohl nicht so stark«, sagte er zu Jed Culver, nur um irgendwas zu sagen.
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