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Das verbotene Glück der anderen

Das verbotene Glück der anderen

Titel: Das verbotene Glück der anderen
Autoren: Manu Joseph
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fester Stimme zu ihr: «Du hast recht gehabt. Unni ist davon ausgegangen, dass du es weißt, er dachte, jeder würde es erfahren. Doch das Mädchen wollte es lieber für sich behalten.»
    «Ja», sagt Mariamma, «sie wollte es lieber für sich behalten. Sie war damals noch ein Kind. Aber demnächst wird sie es mir erzählen. Das Gefühl habe ich – dass sie bereit ist, es mir zu sagen. Ich werde warten.»
    «An dem Tag, als unser Junge starb», sagt Ousep, «war er bei Somen. Er saß mit einer nackten Frau in einem Zimmer. Es ging darum, sie nicht anzurühren. Darin bestand das Spiel – ein philosophisches Spiel. Dreißig Minuten lang sitzt also ein siebzehnjähriger Junge bei einer nackten Frau. Dann kommt der Junge nach Hause. Er muss mit den Nerven fertig gewesen sein, oder?»
    Und obwohl sie nicht darum gebeten hat, erzählt er ihr die Geschichte ihres Sohnes, zumindest das, was er zu wissen glaubt.
    *
    Mythili sitzt im Schneidersitz auf ihrem schmalen Bett im Dunkeln. Seit Monaten versucht sie, eine Entscheidung zu fällen. Doch jetzt ist sie stärker und weiß, dass Gutsein Mutigsein bedeutet. Und Mariamma hat ein bisschen Anstand verdient, vor allem von denen, die sie liebt. Mythili ist kurz davor, es ihr zu sagen. Schon dreimal ist sie mitten in der Nacht über den kurzen Flur gegangen, als ihre Eltern schliefen. Doch jedes Mal, wenn sie vor der Tür stand, hat sie die Nerven verloren und ist wiederumgekehrt. Doch morgen wird sie um zwölf Uhr mittags über den drei Meter langen Flur gehen, an der Tür klingeln und mit Mariamma sprechen. Zum ersten Mal seit Unnis Tod wird Mythili die Wohnung der liebenswertesten Frau der Welt betreten und ihr sagen, warum ihr Sohn gestorben ist.
    Vor drei Jahren hat Mythilis Mutter dem Mädchen ein neues Seidenkleid überreicht. Es ist aus echter Seide, mit einem himmelblauen Oberteil und einem langen Rock, auf den silberne Elefanten gestickt sind. Mythili steht auf dem hinteren Balkon und hat den Rock und das Oberteil an. Ihr dichtes langes Haar trägt sie offen. Als Mariamma auftaucht, stellt sich Mythili auf einen hohen Hocker, um ihr das Kleid in ganzer Länge zu zeigen. «Du siehst wie eine schöne Dame aus», sagt Mariamma und singt ein kurzes Lied auf Malayalam. Mythili sagt sich, dass sie heute wahrscheinlich wirklich schön aussieht. Sie will, dass Unni sie in diesem Kleid sieht. Sie will ihm jedoch zufällig begegnen und ruft ihn deshalb nicht wie sonst vom Balkon aus. Sie wartet sehr lange auf beiden Balkonen, aber er lässt sich nicht blicken. Wie zu erwarten, sagt ihre Mutter immer wieder zu ihr, sie solle sich umziehen, weil das Kleid neu und für Festtage gedacht ist. Doch dann geht Mutter zum Tempel. Sie wird erst in über zwei Stunden wieder zurück sein.
    Es ist jetzt spät am Vormittag. Mythili steht auf dem vorderen Balkon und ruft Unnis Namen in allen Tonfällen der Älteren, die im Wohnblock A leben. Aber er ist nicht zu Hause. Anscheinend ist niemand zu Hause. Sie wartet auf dem Balkon darauf, dass Unni unten auftaucht und auf seine gelangweilte, arrogante Art die kleine Straße entlanggeht. Sie fragt sich, ob er bei sich zu Hause ist, sich in sein Zimmer eingeschlossen hat und an einem Comic arbeitet, taub für alles, was rings um ihn her geschieht. Sie beschließt, zu ihm nach Hause zu gehen. Sie läuft über denFlur und macht die Tür auf, wie sie es ihr Leben lang getan hat. In der Diele ist niemand. Die Tür zu Ousep Chackos Zimmer steht offen, und auch dort ist niemand zu sehen. Die Tür des Jungen ist geschlossen. Sie findet Thoma schlafend in seinem Bett, doch von Unni ist nichts zu sehen. Sie beschließt, in der Diele zu warten und ihn zu überraschen. Sie wird so tun, als trage sie dieses Kleid rein zufällig. Sie nimmt einen Stapel alter Readers’-Digest-Hefte vom Regal in der Diele und setzt sich damit zwischen das Sofa und die beiden Sessel auf den Boden. Sie legt sich auf den Bauch und fängt an zu lesen. Sie fühlt sich schläfrig, passt aber auf, dass ihr die Augen nicht zufallen. Wenn Unni sie schlafen sieht, wird er ihr wieder einen Schnurrbart aufmalen, und das wäre höchst unelegant. Doch in dem sanften, stetigen Wind werden ihr die Lider immer schwerer, und sie schlummert ein.
    Als sie spürt, wie eine Hand ihr durchs Haar und dann ihr Rückgrat und ihre Beine entlang und über ihren ganzen Körper gleitet, ist sie nicht sicher, ob sie nicht träumt. Sie kann nicht leugnen, solche Träume schon gehabt zu haben, doch dann weiß
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