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Das verborgene Kind

Das verborgene Kind

Titel: Das verborgene Kind
Autoren: Marcia Willett
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verschwand um die Hausecke.
    »Es ist Venetia«, sagte Lottie resigniert. »Ich gehe ihr entgegen.«
    Milo zeigte keine besondere Freude über den Besuch seiner Geliebten. »Pass auf, dass sie den Kuchen nicht sieht!«, riet er. »Du kennst sie doch. Sonst bleibt kein Krümel übrig. Kenne keine Frau, die so viele Kohlenhydrate verputzen kann wie Venetia.«
    »Und trotzdem gertenschlank bleibt«, meinte Lottie neidisch. »Grässlich, oder?«
    Durch den Fuchsbau von Räumen ging sie in die Eingangshalle und traf auf Venetia, die das Haus über die kleine Hinterveranda betrat. Elegant und hager wie ein alter Windhund beugte sie sich vor, um Lottie zu umarmen, und berührte mit ihrer perfekt geschminkten Wange die der ungeschminkten Lottie.
    »Die Schneeglöckchen sind einfach wunderbar, Lottie«, sagte sie. »Nicht nur hier am High House , sondern überall. Und die Narzissen kommen gerade heraus. Das ist herzerwärmend.«
    Lottie lächelte. »Es wird Frühling«, pflichtete sie ihr bei. »Wir wollten gerade eine Tasse Tee trinken. Möchtest du auch eine? Milo ist im Wintergarten. Ich bringe ihn gleich.«
    »Das wäre ganz nett von dir, Liebes. Kuchen gibt es wahrscheinlich nicht, oder? Oder einen Schokoriegel? Ich komme um vor Hunger. Warum machen gute Taten einen nur so hungrig? Gerade eben habe ich die arme Clara besucht. Ich fürchte, inzwischen ist sie einfach gaga, und es erschöpft mich ziemlich, immer wieder dieselbe Frage zu beantworten. Heute wusste sie nicht einmal mehr, wer ich bin. Dabei war sie einmal so ein hübsches Mädchen. Ach, Lottie, es ist alles so furchtbar deprimierend!«
    Tief in Venetias immer noch schönen, stark geschminkten violetten Augen sah Lottie Furcht und Entsetzen aufflackern.
    »Aber es wird Frühling«, rief sie der Älteren ins Gedächtnis, »und es gibt Kuchen zum Tee.«
    »Ach, Liebes.« Venetias Stimme war voller Dankbarkeit. »Du munterst einen immer so auf. Ehrlich.«
    »Geh schon zu Milo«, sagte Lottie. »Matt kommt für ein paar Tage zu Besuch, daher ist er sehr gut gelaunt.«
    Venetia schlenderte davon, und Lottie hörte, wie sie den Spaniel begrüßte, der ihr entgegenlief. Kurz darauf tauchte der Hund in der Küche auf. Ein hübscher Kerl war er, eine Kreuzung aus Cocker und Sussex-Spaniel. Er hatte ein sehr sanftes Wesen, obwohl er dumm wie Brot war, wie Milo ungnädig zu bemerken pflegte. Sein Fell hatte die Farbe von Schokoladenbiskuit mit Toffeesauce, einem von Milos Lieblingsdesserts. Er hatte dem bezaubernden rundlichen Welpen den Namen »Pud« gegeben.
    »All diese Neuzüchtungen«, hatte Milo zu ihr gemeint. »Labrapudel, Sprollies und Sprocker. Man hat den Eindruck, dass ihnen dabei das Hirn weggezüchtet wird. Was eine ganz zutreffende Beschreibung für Pud ist.«
    Nun saß das Tier da und schaute Lottie hoffnungsvoll an, während sie Tee kochte.
    »Du hast das Wort ›Kuchen‹ gehört«, sagte sie zu ihm, »aber du kriegst keinen.«
    Sie dachte daran, dass Matt kommen würde, und spürte eine Mischung aus Freude und Beklemmung. Seit dem Tod seiner Mutter vor ein paar Wochen hatte sie das starke Gefühl, dass etwas Bedeutsames geschehen würde. Doch was könnte das sein? Imogen und Matt waren schon lange nicht mehr abhängig von Helen gewesen, und deren Tod war alles andere als plötzlich gekommen. Helen hatte ein trauriges Leben geführt, nachdem sie jung verwitwet war und zwei kleine Kinder großzuziehen hatte, obwohl dieses Schicksal keineswegs ungewöhnlich war. Auch andere Frauen hatten diese Situation bewältigt, ohne stark zu trinken. Natürlich hatte Toms Tod Helen am Boden zerstört. Ihr Mann war in Afghanistan als Kriegsberichterstatter zwischen die kämpfenden Parteien geraten, doch Helens Depressionen hatten schon vor seinem Tod begonnen.
    Lottie konnte sich erinnern, wie sie einmal versucht hatte, mit Tom darüber zu reden, einige Zeit nachdem die kleine Familie von ihrem ersten Aufenthalt in Afghanistan zurückgekehrt war. Aber er war ihr ausgewichen. Er hatte etwas von einer Fehlgeburt gemurmelt, die Helen während seines Einsatzes in Kabul gehabt habe. Sie sei sehr bestürzt darüber gewesen und habe sich nie ganz davon erholt. Lottie hatte ihn nicht gedrängt, mehr zu erzählen. Schon damals hatte sie alle ins Herz geschlossen: Tom, Helen und die Kinder, aber vor allem Tom. Er hatte es nie erfahren. Während der unzähligen Stunden, in denen sie gemeinsam sein Buch über den Krieg in Belgisch-Kongo redigierten, hatte er niemals geahnt, wie
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