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Das Südsee-Virus

Das Südsee-Virus

Titel: Das Südsee-Virus
Autoren: Dirk C. Fleck
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es funktioniert, bisher war er noch jedes Mal befreit zurückgekehrt. Tahitis wilde Wälder, die tosende Brandung an der Ostküste Itis, die stürzenden Wasserfälle bei Tetiaroa, die Gerüche der Pflanzen, das Geschrei der Vögel und die Geräusche des Windes – dies alles übte eine heilsame Wirkung auf ihn aus, bis er eines Tages verblüfft feststellen musste, dass die Begegnung mit der Natur ihm nur Etappensiege bescherte. Die europäische Krankheit, wie er seine Melancholie nannte, scherte sich nicht um paradiesische Zustände, sie hatte ihn fest im Griff. Heimtückisch und beharrlich.
    Erschöpft stützte er die Hände auf die Knie und blickte hinunter auf das Haus, welches er mit Maeva seit fünf Jahren bewohnte. Er musste schon genau hinsehen, um das mit Palmwedeln bedeckte Dach inmitten des Kokosnusshains ausfindig zu machen. Auf der Küstenstraße steuerten zwei gläserne Kabinen des Reva Tae aufeinander zu. Als sie sich auf ihren vorgezeichneten Magnetspuren begegneten, benutzte die Sonne sie als Bande und schickte einen kurzen Doppelblitz als Gruß. Cording überlegte, ob er umkehren sollte, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Anders als sonst war er heute nicht planlos unterwegs, diesmal hatte er sich ein konkretes Ziel gesetzt: das Bad der Königin Teura. Es war sechs Jahre her, als ihn Maeva an jenen runden, von Wasserfällen eingerahmten See geführt hatte, der den Tahitianern noch heute heilig war. Die Königin Teura hatte regiert, bevor der erste Europäer seinen Fuß auf die Insel setzte. Sie war eine hochverehrte Magierin gewesen, und dieser See hatte ihr als Kraftquelle gedient: Niemand außer ihr durfte mit ihm in Berührung kommen. Cording erinnerte sich, wie wohl er sich an diesem Platz gefühlt hatte, und jetzt, da er sich schweißgebadet seinen Weg durch den Dschungel bahnte, konnte er kaum nachvollziehen, dass er seitdem nie wieder dort hingefunden hatte.
    Nach etwa drei Stunden öffnete sich vor ihm das Tal des Papenoo. In diesem hohen Gras hatte er damals gelegen. Obwohl er mit seinen Kräften am Ende war, widerstand er der Versuchung, sich einfach fallen zu lassen. Er schleppte sich ans Westufer, wo ein glitschiger Pfad in den Wald führte. Über mehrere Hügel hinweg kämpfte er sich durchs Unterholz, jede Wurzel, über die er stolperte, jeder Ast, der ihm ins Gesicht schlug, schien ihm vertraut, als sei er erst gestern hier gewesen. Und dann sah er das Bad der Teura, von rauschenden Kaskaden eingefasst wie ein kostbarer Edelstein, die Wasseroberfläche gekräuselt und funkelnd wie der Inhalt einer Schatzkiste. Dies war in der Tat ein mystischer Ort.
    Behutsam tastete sich Cording am Ufer vorwärts, bis er schließlich die kleine Felsplattform entdeckte, auf der sie sich damals niedergelassen hatten. Er setzte sich auf die Kante und stippte die Zehen ins Wasser. Er war sich dieses Sakrilegs durchaus bewusst, gleichzeitig aber drängte es ihn, noch tiefer einzutauchen in das heilige Nass, in das sich schon die Meuterer der »Bounty« ungestraft gestürzt hatten, als sie sich hier für eine Weile versteckt hielten. Er streifte die Kleider vom Leib und rutschte am glatten Fels hinab, bis ihm das Wasser bis zum Hals stand. Dann stieß er sich mit den Füßen ab und trieb auf dem Rücken liegend hinaus auf den See. Er hatte das Gefühl zu schweben, sich aufzulösen unter diesem Himmel. Die seltsamsten Gedanken wehten ihn an. Der Mensch besitzt nichts, dachte er, weder seinen Körper, der ihm jederzeit genommen werden kann, noch irgendeine Wahrheit, die ihm beim nächsten genaueren Hinsehen ohnehin wieder abhandenkommt. Alles, was auf uns Eindruck macht, gehört uns nicht, es sind flüchtige Leihgaben. Wir sind Gespenster, die sich über ihre Einbildungen definieren  …
    Er stieß einen markerschütternden Schrei aus, als wollte er sich beweisen, dass er tatsächlich existierte. Sein Gebrüll wurde von den Wasserfällen absorbiert, als hätte er sich nie geäußert. Er trieb auf dem See dahin wie ein Stück Baumrinde. Vermutlich bedurfte es einer derart entspannten Lage, um die Erinnerungen an seine bisherige Zeit auf Tahiti auf eine Art zu wecken, wie es ihm zuvor nie gelungen war. Bisher hatten sich die Ereignisse in der Rückschau immer zu einem Konglomerat aus persönlichen Befindlichkeiten vermischt, jetzt reihten sie sich chronologisch aneinander wie auf einem Fließband.
    Da waren die ersten drei Monate, als er zusammen mit fünfzig anderen internationalen Journalisten auf der
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