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Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied
Autoren: Peter Robinson
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wohl, dass ihre Erscheinung unterschiedliche Auswirkungen auf Männer hatte. Es war noch nicht lange her, dass sie in einem Pub das Gespräch zweier junger Kerle mit angehört hatte, die sie den ganzen Abend angestarrt hatten.
      »Die Tussi sieht aus, als müsste sie mal richtig durchgefickt werden«, hatte der erste gesagt.
      »Unsinn«, hatte sein Kumpel entgegnet. »Ich wette, mit den Schwänzen, die die hatte, kann man die Straße von hier bis Land's End pflastern - und zwar senkrecht!« Und darüber hatten sie gelacht.
      So viel zu ihrem Äußeren. Vielleicht sahen die Männer in ihr nur das, was sie sehen wollten. Sie benutzten sie als Spiegel, der ihr eigenes abscheuliches Wesen reflektierte. Oder als Leinwand, auf die sie ihre obszönen Fantasien projizierten.
      Sie legte die Zahnbürste auf die verchromte Halterung an der Wand und wandte sich vom Spiegel ab. Mittlerweile war es früher Abend. Die Flut war auf ihrem Weg.
      Sie hatte genügend Geld, um weitaus länger fern von zu Hause über die Runden zu kommen als nötig, und obwohl sie so gut wie sicher war, dass dies der Ort war, an dem sie finden würde, was sie suchte, wusste sie, dass man sich immer irren konnte. Es könnte eines der kleineren Fischerdörfer entlang der Küste sein: Staithes, Runswick Bay oder Robin Hood's Bay. Egal: Sie würde alle unter die Lupe nehmen, wenn es sein musste. Doch im Moment schien Whitby die richtige Wahl zu sein.
      Von ihrer langen Reise war sie müde. Sie würde vielleicht später, kurz vor Sonnenuntergang, ausgehen, die Stadt erkunden und etwas zu essen suchen, jetzt aber war ein Nickerchen das Beste für sie. Zuerst nahm sie jedoch die mitgebrachten Kleider aus der Reisetasche und legte sie in die Kommode neben dem Bett. Viel hatte sie nicht mitgenommen, es war nur legere Freizeitkleidung: Jeans, Cordhosen, Jeanshemden, ein Pullover, Unterwäsche. Die graue Steppjacke für kühle Abende hängte sie in den Kleiderschrank.
      Schließlich holte sie das Wichtigste hervor, das sie mitgebracht hatte, und musste lächeln bei dem Gedanken, wie es zu einem rituellen Objekt geworden zu sein schien, zu einem Talisman, und wie die einfache Handhabe ihr ein Gefühl von Ehrfurcht und Respekt einflößte.
      Es war ein kleiner, kugelförmiger Briefbeschwerer aus Glas mit einer ebenen Unterseite, der glatt und schwer in ihrer Hand lag. Zehn Pfund hatte sie in einem Handwerkszentrum dafür bezahlt. Eine Ewigkeit hatte sie dort in der Hitze der Öfen gestanden und dem Mann zugeschaut, der die Glaswaren herstellte, die er verkaufte, und währenddessen die Vorgehensweise erklärte. Er steckte ein langes Blasrohr in das glühend heiße Herz des Schmelzofens und holte einen Tropfen flüssigen Glases hervor. Dann tauchte er diesen in die Schalen mit leuchtenden Farben: Zinnoberrot, Aquamarin, Safrangelb, Indigo. Martha hatte immer gedacht, man müsste ständig in das Rohr blasen, doch der Mann hatte einfach kurz hineingeblasen und dann das Ende mit der Hand abgedeckt. Als sich die Luft erwärmte, weitete sie das Glas und quoll auf. Wie er die Farben in den Briefbeschwerer bekommen hatte, hatte sie allerdings nicht herausgefunden. Auch nicht, wie er ihn so schwer und massiv gemacht hatte. Der Briefbeschwerer besaß alle möglichen Rotschattierungen: Karmin, Purpur, Scharlachrot. Die Falten und Kurven der Farben im Innern sahen aus wie eine Rose. Wenn Martha ihn ins Licht hielt, schien sich die Rose langsam zu bewegen, als wäre sie unter Wasser. Wenn sie jemals das Gefühl haben sollte, von ihrer Aufgabe abzurücken und ihr Schicksal zu verleugnen, dann wusste sie, dass sie nur den Briefbeschwerer in die Hand nehmen musste, und schon würde das glatte, harte Glas ihre Entschlossenheit stärken.
      Sie stellte ihn neben sich auf die Tagesdecke und legte sich hin. Als sie ihn anschaute, schien sich die Rose im Wechsellicht zu öffnen und zu bewegen. Bald war Martha tief und fest eingeschlafen.
     
     

* 4
    Kirsten
     
    Kirsten blieb auf dem Gehweg vor dem Oastler-Wohnheim stehen und holte tief Luft. Über die gedämpften Gespräche und das Gelächter hinter ihr konnte sie immer noch die Musik hören - Led Zeppelins »Stairway to Heaven«. Sie bemerkte, dass sie kein bisschen beschwipster war als vorher, eher wieder weniger. Auf der Party hatte sie nur ungefähr anderthalb Dosen Bier getrunken und durch das Tanzen hatte sich anscheinend der meiste Alkohol aus ihrem Körper verflüchtigt. Sie musste ihn ausgeschwitzt
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