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Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied
Autoren: Peter Robinson
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seinem Kopf kringelten sich sechs oder sieben lange, blonde Haare.
      »Es kommen nicht viele Frauen allein hierher«, sagte er und lächelte sie mit wimpernlosen blauen Augen an. Offensichtlich war das eine Aufforderung, den Grund ihrer Reise bekannt zu geben.
      »Ja, äh, ich möchte hier ein wenig recherchieren«, log Martha. »Ich arbeite an einem Buch.«
      »Ach, ein Buch? Sicher ein historischer Roman? Ich schätze, dafür werden Sie hier eine Menge Material finden, wegen der Abteiruine und der Dracula-Legende. Ziemlich historischer Stoff, würde ich sagen.«
      »Nein, kein historischer Roman«, sagte Martha.
      Er verfolgte das Thema nicht weiter, betrachtete sie aber mit starrer Miene, einer Mischung aus Überheblichkeit, gespieltem Humor und Unglauben, einem Ausdruck, den sie bei Männern in Gegenwart einer gebildeten Frau häufig gesehen hatte.
      »Ich nehme es«, verkündete sie, vor allem um ihn so schnell wie möglich loszuwerden. Ihr gefiel die Art nicht, wie er mit verschränkten Armen am Türrahmen lehnte und sie beobachtete. Wartete er vielleicht darauf, dass sie ihre Unterwäsche auspackte und in die Kommode legte? Die Atmosphäre im Zimmer wurde klaustrophobisch.
      Er streckte sich. »Gut. Hier sind die Schlüssel. Der große ist für die Haustür. Sie können kommen, wann immer Sie wollen, aber sehen Sie zu, dass Sie die anderen Gäste nicht stören. Im Erdgeschoss gibt es einen Salon mit Farbfernseher. Dort können Sie sich auch eine Tasse Tee oder löslichen Kaffee machen, wenn Sie wollen. Aber spülen Sie den Becher hinterher wieder ab, bitte. Die Frau hat genug zu tun. Frühstück gibt es Punkt halb neun. Wenn Sie zu Abend essen wollen, sagen Sie der Frau am Morgen Bescheid, bevor Sie ausgehen. Sonst noch Fragen?«
      »Nicht dass ich wüsste.«
      Er verschwand und schloss die Tür hinter sich. Martha ließ ihre Reisetasche aufs Bett fallen und streckte sich. Die schräge Decke war an dieser Stelle so niedrig, dass ihre Finger den Putz zwischen den Balken berührten. Sie steckte den Kopf aus dem Fenster, um zu schauen, welchen Ausblick man für neun Pfund fünfzig die Nacht erhielt. Nicht schlecht. Zu ihrer Rechten, ganz nah, zeichnete sich am Ende der Straße der hohe, dunkle Turm der St. Hilda's Church wie einer der Monolithen aus Kubricks 2001-Odyssee im Weltraum ab; zu ihrer Linken, auf dem gegenüberliegenden Hang jenseits der Flussmündung, stand St. Mary's, aus hellerem Stein errichtet, mit einem kleineren, quadratischen Turm, aus dem ein weißer Pfahl emporragte wie der Mast eines Schiffes. Daneben befanden sich die Überreste der Abtei, wo laut ihres Reiseführers im Jahre des Herren 664 die Synode von Whitby stattgefunden hatte, bei der die Kirche von England ihren keltischen Ritus über den Haufen geworfen und beschlossen hatte, fortan der römischen Praxis zu folgen. Zu jener Zeit hatte auch der Dichter Caedmon dort gelebt, was für Martha von größerem Interesse war. Schließlich war Caedmon einer derjenigen, die sie hier hergerufen hatten.
      Sie packte ihren Kulturbeutel aus und ging zum Waschbecken, um sich die Zähne zu putzen. Die Krabben hatten Fasern in den Zwischenräumen und einen salzigen Geschmack im Mund hinterlassen. Während sie das Wasser ausspuckte, warf sie einen flüchtigen Blick auf ihr Gesicht im Spiegel. Es war der einzige Teil an ihr, der sich in dem vergangenen Jahr nicht verändert hatte.
      Sie trug ihr rotblondes Haar vor allem aus Bequemlichkeit kurz. Da sie nie einen Grund hatte, sich zurechtzumachen, um für jemanden hübsch auszusehen, war es wesentlich leichter, es einfach waschen zu können, ohne sich weitere Gedanken darum zu machen. Sie musste auch kein Make-up tragen, was noch mehr Aufhebens ersparte. Ihre Haut war ohnehin immer rein gewesen und die paar Sommersprossen um ihre Nase waren kaum ein Makel. Ihre Augen waren leicht orientalisch geformt - schräge Mandelaugen in ungefähr dem gleichen Hellbraunton. Ihre Nasenspitze reckte sich leicht nach oben - Stupsnase sagte man dazu - und offenbarte die dunklen Ovale der Nasenlöcher. Sie hatte das immer für den hässlichsten Teil ihres Gesichtes gehalten, doch einmal hatte ihr jemand gesagt, es wäre sexy. Sexy! Das war nun wirklich ein Witz! Sie hatte den Mund ihrer Mutter: zusammengepresst, schmale Lippen, mit heruntergezogenen Mundwinkeln.
      Alles in allem sah sie ihrer Meinung nach eingebildet, steif und unnahbar aus - prüde im Grunde -, doch wusste sie sehr
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