Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das spanische Medaillon

Das spanische Medaillon

Titel: Das spanische Medaillon
Autoren: Tom Wolf
Vom Netzwerk:
erheblich unter ihm zu leiden, weil die Franzosen ohne Ansehen der Kleinheit der Gemeinde ihre Kontribution eintrieben. Was hätten wir in einem solchen Verein schon Großartiges bewerkstelligen sollen? Selbst gestrickte Teewärmer verkaufen, um den Erlös einer Kriegskasse zu stiften, wo nicht einmal klar wäre, ob man jemals die Waffen ergriffe? Zu lächerlich, fand ich, und mir musste schließlich gefallen, was ich ins Leben zu rufen gedachte ...
    Eine Heimsuchung besonderer Art unterbrach die Kanzower Tristesse Anfang Dezember 1809, als nämlich Doktor Heim, unser alter Freund, bei uns hereinschneite, um Austern, geräucherten Lachs, Spargel und Fasan mit uns zu schmaußen (sein Lieblingswort) und etliche Pariser Anisschnäpse mit frischem gestoßenem Eis aus Brunnenwasser dazu zu trinken. Die gute Seele, die so oft bei uns umsonst geschmaußt , wollte jetzt etwas wiedergutmachen und hatte die herrlichen Schmaußereien im Delicatess-Comptoir gekauft – meine Cousine Evelyn, die schon früh ins Geschäft eingetreten, führte nach Großmutters Tod 1804 den Laden mit souveräner Hand. Marie von Quandt, geborene von Beeren, war leider nur 81 Jahre alt geworden.
    »An der Sorbonne«, erzählte er voller Freude, nachdem er uns ausführlichst vom Brand der Petrikirche berichtet hatte, über den ich bereits von Evelyn brieflich erfahren hatte, »hat man untersucht, wie sich der abgetrennte Kopf eines Guillotinierten verhält, wenn man ihn direkt nach der Hinrichtung anspricht. Der premier médecin de la Grande Armée, Des Genettes, hat mir einen Bericht geschickt. Ich dachte, das könnte Sie interessieren?«
    Der satte, inzwischen schon sehr rundliche Heim lehnte sich zufrieden zurück. Sicher, es war nicht unbedingt ein Thema, auf das man nach einem guten Essen gewöhnlicherweise leicht kommt. Doch sowohl Jérôme als auch ich selbst waren durchaus begierig, von den Ergebnissen zu hören.
    »Nun«, sagte Heim, sich nunmehr genüßlich eine dritte Portion des von uns gestellten Desserts, in Branntwein eingelegte Kirschen und Schlagsahne, schmecken lassend, »sofort nach dem Herausklauben des gefallenen Hauptes aus dem Korb hat man laut verschiedene Namen ausgesprochen. Bei der Nennung des rechten Namens, desjenigen nämlich, der zum Hingerichteten gehörte, öffneten sich jedes Mal die Augenlider und die Augen blieben für etliche Sekunden geöffnet. Dies gelang bis zu dreimal, dann schlossen sich die Augen ganz und gingen nicht mehr auf.«
    »Unglaublich!«, sagte Jérôme und ich fragte: »Hat man auch Fragen an abgetrennte Köpfe gerichtet?«
    »Ja, hat man, eine einzige. Sie lautete: Existiert das Höchste Wesen? Zuvor hatte man den unglückseligen Probanden leider keine Anweisungen gegeben, wie sie ihre Antworten etwa hätten signalisieren können. Man muss sich vorstellen, dass mit dem Kopf allein keine hörbare Verlautbarung mehr möglich ist. Auch zu einer gestischen Verneinung oder Bejahung fehlt der bewegliche Hals. Mund- und Augenbewegungen schienen die einzige Möglichkeit. Man hat nichts Eindeutiges beobachtet, bei keinem der Befragten. Nach dem Stellen der Frage sah man jedes Mal nur Augenrollen und Mundöffnen, Mundaufreißen, Blinzeln, Mundverziehen oder eine grauenhafte Grimasse.«
    »Gespenstisch!«, war das Einzige, was mir einfiel. »Ich hasse jeden, der solche entwürdigenden Experimente ausführt!«
    »Wer hat die Exekutionen vorgenommen? Der amtierende Henker von Paris?«, wollte Jérôme wissen.
    »Zusammen mit einem seiner Söhne, ja«, bestätigte Heim.
    »Und der Professor de Maizière stellte die Fragen ...«
    »Der Schuft! Wann war das?«, fragte ich.
    »Im Frühjahr 1806«, antwortete Heim. »Es ist eine Schlappe für die Republik. Denn man hatte postuliert, dass die Guillotine das sanfteste Mordinstrument für Verbrecher sei. Nun sieht es so aus, als lebe, empfinde und leide der abgeschlagene Kopf noch minutenlang.«
    »Garstig!«, entfuhr es mir.
    »Doch leicht vorstellbar«, spann Heim seinen Bericht fort. »Indem man die Blutzufuhr unterbricht, stirbt das Gehirn ja nicht sofort. Es wird noch eine gewisse Zeit normal empfinden und die entsprechenden Reaktionen bei akkustischen oder optischen Signalen veranlassen.«
    »Stell es dir vor! Du bist nur noch Kopf und kannst noch ein paarmal die Augen aufschlagen oder die Lippen kräuseln. Dann ist es vorbei ...«, sagte Jérôme.
    Wir legten uns in dieser Nacht mit sehr gemischten Gefühlen , wie man so treffend-unscharf zu sagen pflegt, zur
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher