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Das Schwein unter den Fischen

Das Schwein unter den Fischen

Titel: Das Schwein unter den Fischen
Autoren: Jasmin Ramadan
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der Fensterbank fest, starrte in den schwarzen Himmel, bis ich müde wurde, und taumelte dann zurück ins Bett. Als Ramona anfing, auch tagsüber zu trinken, klappte es mit dem Vorlesen überhaupt nicht mehr. Man kann als trainierter Säufer mit zwei Promille eine ganze Menge Dinge tun, ohne besonders aufzufallen – aber mit dem Vorlesen war es vorbei. Als sie es auf eine Flasche Apfelkorn pro Tag brachte, machte sie sich nicht einmal mehr die Mühe, das Buch noch aufzuschlagen. Und wenn doch, war sie schon zufrieden, wenn sie einen einzigen Satz ohne größere Zwischenfälle geschafft hatte. Sie bekam entweder Schluckauf oder schlief selbst lange vor mir ein.
    Einmal biss sie sich während eines besonders hartnäckigen Schluckaufs auf die Zunge. Es fing furchtbar an zu bluten, sie rannte ins Bad, steckte sich einen Wattebausch in den Mund und presste die Lippen aufeinander. Sie nuschelte, dass ich ihr irgendwas holen sollte, aber ich konnte nicht verstehen, was. Schließlich nahm sie die Watte heraus, streckte mir die Zunge entgegen, sodass ich sehen konnte, wie sehr es blutete. Sie brüllte, ich solle ihr endlich den Wodka zum Identifizieren bringen! Als ich »desinfizieren« sagte, klebte sie mir eine. Ich lief durch die dunkle Wohnung und fand ihre letzte Flasche mit einem Spuckerest drinnen. Ich empfahl ihr, den Alkohol eine Weile im Mund zu lassen, damit er wirkte. Ramona ließ den Wodka über den blutigen Wattebausch laufen und schickte mich auf den Dachboden, wo sich ihr Versteck für Notfälle befand. Als ich mit demDoppelkorn zurückkam, war sie eingeschlafen, die kaputte Zunge hing ihr aus dem Mund, und die Watte steckte als Pfropfen in der leeren Sektflasche, die mein Vater von Tante Trixi zum Geburtstag bekommen und die er für einen besonderen Anlass aufgehoben hatte. Ramona wachte kurz auf und murmelte mit geschlossenen Augen: »Danke, danke, Süße, sagst du Reiner, es tut mir leid wegen des Schampus, aber es tat so weh, es tat so weh.«
    Ein paar Tage später fragte ich meinen Vater, was man macht, wenn man sich plötzlich vor seiner eigenen Zunge ekelt. Wir standen gerade in einer Konditorei. Ich starrte durch die Vitrine auf den dicken Rumpf der Konditorin, der von einem bunt geblümten Kittel umspannt war. Ich kniff meine Augen zusammen, ihre Arme blendete ich aus, formte die Enden ihres Kittels rund, radierte ihre üppigen Brüste seitlich zu einer Linie und sah nur noch ein riesiges Osterei, das sich bewegte, schwebte und meinen Vater antanzte. Ich hatte über dieses Bild meine Furcht vor einem möglichen Zungenekel gerade wieder vergessen, als Reiner in meine Osterei-Trance hineinsprach: »Das passiert nicht, niemand ekelt sich vor sich selbst!«
    Das Osterei fügte hinzu: »Das ist aber mal ein phantasievolles Kind!« Mein Vater sagte: »Ja, was die sich manchmal so denkt, das muss sie von ihrer Mutter haben, die hat sich auch zu jedem Quatsch was gedacht!«
     
    In der vierten Klasse bekam ich eine Empfehlung fürs Gymnasium. Reiner war dagegen, mir war es egal. Schließlich bat ihn meine kurzhaarige, aber großbrüstige Klassenlehrerin zum Gespräch. Sie gab zu bedenken, ich könnte bei anhaltender mangelnder intellektueller Herausforderung depressiv werden. Reiner verstand zwar nicht warum, aber ihn überzeugte womöglich, dass meine Lehrerin das gleiche penetrante Ying-Yang-Duftöl trug wie er.
    Meinen neuen Mitschülern erzählte ich, meine Mutter sei Miss Universum und deswegen in der ganzen Welt unterwegs, eine Operndiva mit großem Erfolg in Asien und Südamerika, eine herumziehende Seiltänzerin, eine Pferdezüchterin in Kanada, eine Wissenschaftlerin, die an einem geheimen Ort tödliche Krankheitserreger erforscht. Regelmäßig berichtete ich von anderen Karrieren, die sie an einem Besuch hinderten. Als siemich dabei ertappten, dass ich unterschiedliche Geschichten erzählte, lachten mich einige aus, ein ohnehin ständig gereizter Junge trat mir in den Bauch, und die beliebteste Mädchenclique ignorierte mich über mehrere Wochen hinweg. Von da an verlor ich nie wieder ein Wort über meine Mutter, aber ich stellte mir vor dem Einschlafen noch manchmal vor, wie sie wohl aussah. Später erschien sie mir nur noch im Traum, sie wandte mir den Rücken zu, trug einen Pelzmantel, lachte und unterhielt sich mit jemandem, den ich nicht erkennen konnte. Irgendwann zu Beginn meiner Pubertät verschwand sie auch aus meinen Träumen, und mir blieb nur noch Ramona.
    Als wir in der Schule den
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