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Das Schwein unter den Fischen

Das Schwein unter den Fischen

Titel: Das Schwein unter den Fischen
Autoren: Jasmin Ramadan
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Überholen anhupte. Hinterher tapezierte er – zur Belohnung –, wie er sagte, sämtliche Wände unseres Wohnzimmers mit einer Fototapete, die einen Traumstrand zeigte. Wegen des vielen blauen Himmels darauf, wie er verkündete: »Gar keine Türen, und nach allen Seiten offen. Maxi Freiheit, so ein Himmel! Guck ihn dir einfach an, wenn dir mal wieder eng ums Herz wird, Stint!« Er klopfte mit der flachen Hand darauf herum und strich die eine oder andere Luftblase glatt.
    Ich machte jedes Mal widerspruchslos mit, wenn mein Vater einen neuen Einfall hatte, und irgendwann war es tatsächlich nicht mehr so schlimm. Ich wusste ja, dass er mich wieder befreien würde.
    Sogar in den Sarg, den er bei der Auflösung eines Theaterfundus ersteigert hatte, wäre ich gestiegen. Nach einigem Nachdenken hielt aber auch er das für übertrieben. Es könnte Unglück bringen, meinte er, als Kind in einen Sarg zu steigen. Er selbst schlief nächtelang darin, bis Ramona drohte, ihn zu verlassen.

GASTFAMILIE
    Ich besaß ein vergilbtes Foto, auf dem Reiner lachte und seine Zähne so weiß strahlten, wie in einer Kaugummiwerbung. Seine gesunden, blonden langen Haare wehten ihm ins Gesicht, um den Hals lag der Arm einer Frau, auf seiner Brust ihre große Hand, die Nägel weinrot lackiert. Über seinem Kopf erkannte man ein Stück grau verhangenen Himmel.
    Eine schwarze Haarsträhne wehte ihm auf dem Foto für immer ins Gesicht. Den Rest der Frau hatte Ramona abgeschnitten. Die Frau war meine Mutter. Als ich vier oder fünf Jahre alt war, hatte Reiner mir das Foto zum ersten Mal gezeigt. Er hielt es für wichtig, mich so früh wie möglich über meine Herkunft aufzuklären. »Die Identität ist eine Kugel«, sagte Reiner. »Ist sie verbeult, kann sie nicht rollen und in die richtigen Bahnen gelangen!«
    Meine Mutter war auf diesem Foto schon schwanger, er aber hatte davon nichts gewusst. Als ich ihn fragte, warum sie nie mehr zurückgekommen ist, antwortete er:
    »Mit dir hat das nichts zu tun«.
    »Aber warum will sie nicht wissen, wie es mir geht?«
    »Sie ist sich eben sicher, dass du es gut bei mir hast, deshalb. Punkt, aus.«
    Nach einem Streit mit Reiner zeriss Ramona das Foto in unendlich viele kleine Schnipsel und saugte danach wie eine Besessene die ganze Wohnung.
     
    Meine Mutter hatte die Kinder einer reichen Künstlerfamilie gehütet. Bevor sie Deutschland wieder verließ, schenkte sie den Kindern zum Trost ein Katzenbaby, das sie, nach Schiller, Friedrich nannten.
    Colombe war nie lange an einem Ort geblieben. Ihr Vater war Diplomat, ein konservativer Globetrotter, und so war sie es von klein auf gewohntgewesen, nur für kurze Zeit an einem Ort zu bleiben. Fehrmann hatte sie als meinen Nachnamen eintragen lassen und mir den Vornamen Célestine gegeben. Reiner konnte ihn nie richtig aussprechen. Das »C« klang bei ihm wie ein »Z«, und den letzten Vokal sprach er aus, anstatt ihn wie im Französischen wegzulassen. Aber eigentlich kürzte er meinen Namen immer bloß ab und nannte mich eben: Stine. Wenn er sauer auf mich war oder einfach angespannt, nannte er mich auch Stint, wie den kleinen Fisch.
    Oft erzählte er mir, wie er meine Mutter zum letzten und mich zum ersten Mal gesehen hatte. Er erzählte es immer ein bisschen anders. Sogar die Farben ihrer Kleidung veränderte er. Ich stellte mir die Szene deshalb irgendwann nur noch in Schwarz-Weiß vor:
    Reiner hatte Colombe seit Monaten nicht gesehen, als es ungewöhnlich früh an der Tür klingelte. Er öffnete, und im selben Moment ging das Licht im Treppenhaus aus. Sie drückten beide zur gleichen Zeit auf den Schalter. Ihre Hände berührten sich zum letzten Mal. Colombe trug ihren viel zu großen Kapuzenmantel mit den riesigen viereckigen Knöpfen. Unter der Kapuze schaute eine Wollmütze hervor, die sie sich tief ins Gesicht gezogen hatte. Ihr Mantel war so lang, dass man nicht einmal ihre Stiefelspitzen sehen konnte.
    Mit gesenktem Kopf sagte sie leise: »Excuse-moi, Ränje, hier ist deine Kind, ein Mädschen, ich kann nicht longe bleiben. Alle Unterlagen sind in die Tasche. Meine Flug nach Rom zu meinem Vater ist früh.«
    Eilig lief sie davon und verschwand für immer durch die hohe Eingangstür.
    Reiner blieb so lange erstarrt stehen, bis das Licht im Treppenhaus erlosch und ich anfing zu schreien.
     
    Die ersten zwei Jahre lebten wir mit meinen Großeltern unter einem Dach. Aber nachdem wir mit Ramona zusammengezogen waren, verbrachten wir außer an den
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