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Das Rosie-Projekt

Das Rosie-Projekt

Titel: Das Rosie-Projekt
Autoren: Graeme Simsion
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minderen gesellschaftlichen Fehler, den ich jedoch sofort korrigierte.
    »Die dicke Frau …
übergewichtige
Frau … dort hinten?«
    Sie stutzte kurz, sah sich um und sagte dann: »Rationale Distanziertheit – ist das ein Euphemismus für Mangel an Emotion?«
    »Nein, ein Synonym«, erwiderte ich. »Emotionen können erhebliche Probleme verursachen.«
    Ich entschied, dass ein Beispiel hilfreich sein könnte, und erzählte eine Geschichte, in der emotionales Verhalten katastrophale Folgen hätte.
    »Stellen Sie sich vor«, begann ich, »Sie verstecken sich in einem Keller. Der Feind sucht nach Ihnen und Ihren Freunden. Alle müssen sich absolut ruhig verhalten, doch Ihr Baby fängt an zu schreien.« Ich machte es vor, so wie Gene es tun würde, um die Geschichte anschaulicher zu gestalten. »Wääää!« Ich ließ eine dramatische Pause folgen. »Sie haben eine Waffe.«
    Überall wurden Hände gehoben.
    Julie sprang auf, während ich fortfuhr: »Mit Schalldämpfer. Die Feinde kommen näher. Sie werden Sie alle töten. Was tun Sie? Das Baby schreit …«
    Die Kinder waren ganz wild darauf, ihre Lösung mitzuteilen. Eines rief: »Das Baby erschießen«, und bald darauf schrien sie alle: »Das Baby erschießen, das Baby erschießen.«
    Der Junge, der die Frage zur Genetik gestellt hatte, rief: »Die Feinde erschießen«, und ein anderer sagte: »Ihnen auflauern.«
    Nun häuften sich die Vorschläge.
    »Man kann das Baby als Lockmittel benutzen.«
    »Wie viele Waffen haben wir?«
    »Wir halten ihm den Mund zu.«
    »Wie lange kann es ohne Luft überleben?«
    Wie erwartet, kamen alle Ideen von denjenigen, die unter Asperger »litten«. Die Eltern konnten keinerlei konstruktive Vorschläge einbringen; manche versuchten sogar, die Kreativität ihrer Kinder zu unterdrücken.
    Ein Junge rief: »Aspis sind geil!« Diese Abkürzung hatte ich in der Literatur schon entdeckt, doch für die anderen Kinder schien sie neu zu sein. Und offenbar gefiel sie ihnen, denn schon bald kletterten sie erst auf die Stühle, dann auf die Pulte, boxten mit den Fäusten in die Luft und riefen »Aspis sind geil!« im Chor. Nach dem, was ich gelesen hatte, leiden Asperger-Kinder in ihrem sozialen Umfeld oft unter mangelndem Selbstbewusstsein. Ihr Erfolg bei der Lösungssuche schien das vorübergehend kuriert zu haben, doch auch hier versagten die Eltern darin, ihnen positives Feedback entgegenzubringen. Im Gegenteil, sie fuhren sie an und versuchten sogar, sie von den Tischen zu ziehen. Anscheinend waren sie mehr an der Einhaltung gesellschaftlicher Konventionen interessiert als an den Fortschritten ihrer Kinder.
    Ich hatte das Gefühl, meine These wirkungsvoll dargelegt zu haben, und auch Julie schien nicht der Meinung, dass wir mit der Genetik fortfahren müssten. Die Eltern dachten möglicherweise darüber nach, was ihre Kinder gelernt hatten, und verließen den Vortrag, ohne weiter mit mir Kontakt zu suchen. Es war 19 : 43  Uhr. Ein exzellentes Ergebnis.
    Während ich meinen Laptop einpackte, brach Julie in Gelächter aus.
    »Oh, mein Gott«, sagte sie. »Jetzt brauche ich einen Drink.«
    Ich war mir nicht sicher, warum sie diese Information mit jemandem teilen wollte, den sie erst sechsundvierzig Minuten kannte. Ich hatte selbst vor, etwas Alkohol zu konsumieren, wenn ich nach Hause käme, sah aber keinen Grund, Julie darüber in Kenntnis zu setzen.
    Sie fuhr fort: »Wissen Sie, wir benutzen dieses Wort nicht. Aspis. Wir wollen nicht, dass sie sich für eine Art Club halten.« Schon wieder eine negative Andeutung von jemandem, der vermutlich dafür bezahlt wurde, zu unterstützen und zu ermutigen.
    »Wie Homosexuelle?«, gab ich zurück.
    »Touché«, meinte Julie. »Aber hier liegt die Sache anders. Wenn sie sich nicht ändern, werden sie nie echte Freundschaften schließen – sie werden nie eine Partnerschaft eingehen können.« Das war ein vernünftiges Argument. Ein Argument, das ich angesichts meiner eigenen diesbezüglichen Schwierigkeiten gut nachvollziehen konnte. Doch schon wechselte Julie das Thema. »Aber Sie haben angedeutet, dass es Dinge gibt – nützliche Dinge –, die sie besser können als … Nicht-Aspis. Abgesehen davon, Babys zu erschießen.«
    »Natürlich.« Ich fragte mich, warum gerade ihr, die sich mit der Ausbildung von Menschen mit ungewöhnlichen Fähigkeiten beschäftigte, der Wert von und Markt für solche Fähigkeiten nicht bewusst war. »In Dänemark gibt es eine Firma, die Aspis zum Überprüfen von
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