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Das Rosie-Projekt

Das Rosie-Projekt

Titel: Das Rosie-Projekt
Autoren: Graeme Simsion
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niemals Kaffee nach 15 : 48  Uhr. Es würde meinen Schlaf beeinträchtigen. Koffein hat eine Halbwertszeit von drei bis vier Stunden, daher ist es unverantwortlich, nach 19  Uhr noch Kaffee zu servieren – es sei denn, die Leute planen, bis nach Mitternacht wach zu bleiben. Und das würde, wenn sie einer konventionellen Arbeit nachgehen, zu ungenügendem Schlaf führen.« Ich versuchte, die Wartezeit dadurch zu nutzen, dass ich praktische Ratschläge erteilte, doch Julie bevorzugte es anscheinend, Trivialitäten auszutauschen.
    »Wie geht es Gene?«, erkundigte sie sich. Dies war offenbar eine Variante zu der am weitesten verbreiteten konventionellen Interaktion »Wie geht es Ihnen?«
    »Es geht ihm gut, danke«, antwortete ich, indem ich die konventionelle Antwort in dritter Person wiedergab.
    »Oh. Ich dachte, er sei krank.«
    »Gene erfreut sich ausgezeichneter Gesundheit, von den sechs Kilogramm Übergewicht einmal abgesehen. Wir sind am Morgen noch zusammen laufen gewesen. Er hat heute Abend eine Verabredung, die er nicht wahrnehmen könnte, wenn er krank wäre.«
    Julie wirkte irritiert, und als ich diesen Austausch später noch einmal Revue passieren ließ, ging mir auf, dass Gene ihr gegenüber mit dem Grund seiner Abwesenheit gelogen haben musste. Dies geschah vermutlich in der Absicht, Julie vor dem Gefühl zu bewahren, Gene sei der Vortrag nicht wichtig, und um eine Rechtfertigung für einen weniger angesehenen Ersatzredner zu liefern. Es scheint mir kaum möglich, eine derart komplexe Situation, in der es um Täuschung und Einschätzung der mutmaßlichen emotionalen Reaktion eines anderen Menschen geht, zu analysieren und dann eine eigene plausible Lüge zu entwerfen, während man gleichzeitig ein Gespräch in Gang halten muss. Aber genau das ist es, was die Leute von einem erwarten.
    Schließlich baute ich meinen Laptop auf, und wir fingen an –
mit achtzehn Minuten Verspätung
. Ich müsste meine Sprechgeschwindigkeit um dreiundvierzig Prozent erhöhen, um den Vortrag planmäßig um Punkt 20  Uhr beenden zu können – ein nahezu unmögliches Unterfangen. Folglich würden wir mit Verspätung fertig werden, und mein Zeitplan für den Rest des Abends wäre zerstört.

2
    Ich hatte meinen Vortrag
Genetische Vorbedingungen für Autismus-Spektrum-Störungen
benannt und einige exzellente DNA -Diagramme ausfindig gemacht. Nach nur neun Minuten, in denen ich etwas schneller gesprochen hatte, um die verlorene Zeit aufzuholen, wurde ich von Julie unterbrochen.
    »Professor Tillman. Die meisten von uns sind keine Wissenschaftler, deshalb sollten Sie das Thema vielleicht weniger fachspezifisch ausführen.« So etwas nervt ungemein. Die Leute können einem die vermeintlichen Charaktereigenschaften eines Zwillings oder Stiers aufzählen und fünf Tage damit zubringen, ein Cricket-Spiel zu verfolgen, finden aber weder das Interesse noch die Zeit, etwas über die Grundlagen dessen zu erfahren, woraus sie als Menschen bestehen.
    Ich setzte meinen Vortrag so fort, wie ich ihn vorbereitet hatte. Es war zu spät, ihn zu ändern, und einige der Zuhörer waren mit Sicherheit gebildet genug, ihn zu verstehen.
    Ich hatte recht. Eine männliche Person von etwa zwölf Jahren hob die Hand.
    »Sie sagen also, es sei unwahrscheinlich, dass es nur ein einziges Markergen gibt, sondern dass mehrere Gene beteiligt seien, und das Gesamtbild sei abhängig von der speziellen Kombination. Positiv?«
    Exakt! »Plus Umweltfaktoren. Die Situation entspricht der bipolaren Störung, bei der …«
    Wiederum unterbrach mich Julie. »Also, für uns Nicht-Genies: Ich denke, Professor Tillman will uns daran erinnern, dass das Asperger-Syndrom angeboren ist. Niemand ist schuld an diesem Defekt.«
    Ich war entsetzt über den Gebrauch des Wortes »Defekt« mit seiner negativen Konnotation, vor allem durch eine Autoritätsperson. Ich ließ meinen Entschluss fallen, nicht von den genetischen Aspekten abzuweichen. Zweifelsohne hatte die Angelegenheit in meinem Unterbewusstsein geschlummert, und als Folge sprach ich möglicherweise mit erhobener Stimme.
    »Defekt! Das Asperger-Syndrom ist kein Defekt! Es ist eine Variante des Möglichen – vielleicht sogar ein erheblicher Vorteil. Das Asperger-Syndrom ist mit hoher Organisations- und Konzentrationsfähigkeit, innovativer Denkweise und rationaler Distanziertheit verbunden.«
    Eine Frau im hinteren Teil des Raumes hob die Hand. Ich war noch ganz auf meinen Einwand konzentriert und beging einen
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