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Das Rosie-Projekt

Das Rosie-Projekt

Titel: Das Rosie-Projekt
Autoren: Graeme Simsion
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denen so etwas nicht nötig ist. Unglücklicherweise ist das Verfahren, ebenjene zu finden, unsagbar ineffizient. Das Aprikoseneis-Desaster hat mich einen ganzen Abend meines Lebens gekostet, was nur durch wertvolle Information über Simulationsalgorithmen einigermaßen aufgewogen wurde.
     
    Dank der Ausstattung der Cafeteria der medizinischen Bibliothek mit WLAN reichten zwei Mittagspausen aus, um meinen Vortrag über das Asperger-Syndrom zu recherchieren und vorzubereiten, ohne dabei die Nahrungsaufnahme vernachlässigen zu müssen. Ich besaß bislang keine Kenntnis über Autismus-Spektrum-Störungen, da diese außerhalb meines Fachgebiets liegen. Das Thema war faszinierend. Es schien mir sinnvoll, mich auf die genetischen Aspekte des Syndroms zu konzentrieren, die meinem Publikum vermutlich nicht bekannt wären. Die meisten Krankheiten beruhen auf einer Störung in unserer DNA , wobei wir sie in vielen Fällen erst noch entdecken müssen. Meine eigene Arbeit konzentriert sich auf die genetische Disposition für Leberzirrhose. Einen Großteil meiner Arbeitszeit verbringe ich damit, Mäuse betrunken zu machen.
    Natürlich wurden in Büchern und Forschungsarbeiten auch die Symptome des Asperger-Syndroms beschrieben, und ich kam zu dem vorläufigen Schluss, dass die meisten davon lediglich Variationen der menschlichen Hirnfunktionen seien, die man unzutreffend als medizinisch auffällig eingestuft hatte, weil sie nicht den gesellschaftlichen Normen entsprachen. Gesellschaftliche Normen sind dabei jedoch kulturell bedingt und spiegeln nur die gängigsten menschlichen Konfigurationen wider anstatt das gesamte Spektrum. Der Vortrag war für 19 : 00  Uhr an einer Schule in einem nahe gelegenen Vorort angesetzt. Ich kalkulierte zwölf Minuten für die Fahrt mit dem Fahrrad ein und gab weitere drei Minuten dazu, um meinen Computer hochzufahren und mit dem Projektor zu verbinden.
    Planmäßig um 18 : 57  Uhr traf ich ein – siebenundzwanzig Minuten, nachdem ich Eva, die miniberockte Putzhilfe, in meine Wohnung eingelassen hatte. An der Tür und im vorderen Bereich des Klassenzimmers tummelten sich schätzungsweise fünfundzwanzig Menschen, aber anhand Genes Beschreibung konnte ich Julie, die Veranstalterin, sofort erkennen: »blond mit großen Titten«. Tatsächlich waren ihre Brüste nicht mehr als eineinhalb Standardabweichungen von der ihrem Körpergewicht entsprechenden Normgröße entfernt und mitnichten ein bedeutsames Identifikationsmerkmal. Es war eher eine Frage von Anhebung und Betonung, was auf Julies Kleiderwahl zurückzuführen war, die für einen heißen Januarabend durchaus zweckmäßig erschien.
    Vielleicht verbrachte ich zu lange Zeit damit, ihre Identität zu verifizieren, denn sie musterte mich mit seltsamem Blick.
    »Sie müssen Julie sein«, sagte ich.
    »Kann ich Ihnen helfen?«
    Sehr gut. Eine praktisch veranlagte Person. »Ja, zeigen Sie mir bitte den VGA -Anschluss.«
    »Oh«, meinte sie. »Dann sind Sie bestimmt Professor Tillman. Ich bin sehr froh, dass Sie es einrichten konnten.«
    Sie wollte mir die Hand geben, doch ich winkte ab. »Der VGA -Anschluss, bitte. Es ist 18 : 58  Uhr.«
    »Entspannen Sie sich«, entgegnete sie. »Wir fangen nie vor Viertel nach sieben an. Möchten Sie einen Kaffee?«
    Warum schätzen die Leute die Zeit anderer nur so gering? Nun würden wir wohl den unvermeidlichen Smalltalk führen müssen. Dabei hätte ich zu Hause noch eine Viertelstunde Aikido üben können.
    Ich hatte mich zunächst auf Julie und die Leinwand vorn im Raum konzentriert, doch nun stellte ich bei genauerem Hinsehen fest, dass ich neunzehn weitere Personen außer Acht gelassen hatte, die an den Schreibpulten saßen. Es waren Kinder, vornehmlich männlich und vermutlich Opfer des Asperger-Syndroms. Fast die gesamte Literatur beschäftigt sich mit Kindern.
    Trotz ihres Gebrechens nutzten sie die Zeit weitaus sinnvoller als ihre Eltern, die ziellos dahinplauderten. Die meisten Kinder – ich schätzte sie auf zwischen acht und dreizehn Jahre – waren mit tragbaren elektronischen Geräten beschäftigt, und ich hoffte, dass sie in ihrem naturwissenschaftlichen Unterricht aufgepasst hatten, da mein Vortrag ausreichende Kenntnisse in Organischer Chemie und der Struktur von DNA voraussetzte.
    Ich merkte, dass ich die Kaffee-Anfrage nicht beantwortet hatte.
    »Nein.«
    Leider hatte Julie aufgrund der verspäteten Antwort ihre Frage bereits vergessen. »Keinen Kaffee«, erklärte ich also. »Ich trinke
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