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Das Puppenzimmer - Roman

Das Puppenzimmer - Roman

Titel: Das Puppenzimmer - Roman
Autoren: Maja Ilisch
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Adventszeit mit ihren verschnupften Näschen daran festfroren und Miss Mountford sehr zornig dreinblicken musste, wenn die armen Dinger unglücklich und blutend wieder zurück waren.
    Von wo mochte der Mann die Puppe hergenommen haben? Sein Anzug saß zu eng, als dass er sie unter der Jacke hätte verstecken können, und ich hätte schwören können, dass seine Hände eben noch leer gewesen waren. Im Zirkus gab es auch Zauberkünstler … Plötzlich sah ich den Mann mit neuen Augen, während um mich herum alles auf das Biskuitgesicht mit den großen blauen Augen starrte, dessen Mündchen noch kleiner war als das unserer Vorsteherin, so winzig, dass es nichts als ein Lächeln zeigen konnte. Doch mein Arm blieb unten.
    Ich versuchte, mich zu erinnern, ob ich seine Hände zuvor überhaupt gesehen hatte oder ob er sie nicht vielmehr die ganze Zeit über hinter seinem Rücken verborgen hielt. Hatte er mich vielleicht deswegen an eine Dohle erinnert, weil seine Arme wie Flügel aussahen? Ich zwinkerte. Zirkus oder nicht, ein Zauberer beherrschte seine Tricks, weiter nichts, und er konnte die Puppe ja schlecht aus der leeren Luft gegriffen haben.
    Dann fing mich sein Blick ein. Ich sah ihn an mir hinunterblicken und wieder hinauf, und vielleicht war das sogar ein Lächeln in seinem Gesicht, aber ich erwiderte seinen Blick mit dem gleichen leichten Nicken, das er mir entgegenbrachte.
    »Und du, Mädchen?«, fragte er. So hätte er jede von uns anreden können, und doch wussten wir alle, dass ich gemeint war. »Spielst du nicht gerne mit Puppen?«
    »Nein«, erwiderte ich. »Das tue ich nicht.«
    »Und warum nicht, wenn du mir diese Frage gestattest?«
    Natürlich gestattete ich. »Sie sind tot und reden nicht mit mir«, antwortete ich. »Eine Puppe gibt mir nicht das, was mir ein Buch gibt.« Ich biss mir auf die Lippe. Es war kein großes Geheimnis, dass ich liebend gerne Romane las, aber doch nichts, was Miss Mountford so direkt hören musste. Ein Mädchen, das Zeit zum Lesen hatte, konnte noch ganz andere Sachen tun – nützliche, vorzugsweise.
    »Bedauerlich«, sagte der Gentleman, »sehr bedauerlich.« Und er wandte den Blick von mir ab. Da wusste ich, dass wir so nicht ins Geschäft kommen würden, und dass es das Beste für uns beide war. »Aber ihr anderen Mädchen, ihr liebt Puppen?« Wildes Nicken, ob nun aus echter Begeisterung oder vorgetäuschter. Ich war mir sicher, dass die Älteren sich längst aus dem Puppenalter herausgewachsen fühlten. Aber besser mit Puppen spielen als in der Fabrik schuften, nicht wahr?
    Mr. Molyneux trat noch einen Schritt zurück. »Wer von euch möchte diese Puppe hier haben?«, fragte er. Wieder gingen alle Hände hoch außer meiner. Es gab kein Halten mehr. Die Kleinen wollten die Puppe, die Großen wollten den Mann. Außer mir schien niemand wahrzunehmen, dass der Gentleman die Augen geschlossen hatte und zu überlegen schien, statt irgendetwas auf die wedelnden Mädchenhände zu geben. Schließlich ging er wieder zwei, drei Schritte vorwärts, schnell und entschlossen, und drückte die Puppe einem kleinen Mädchen in der ersten Reihe in die Hände.
    Ich konnte von hinten nicht erkennen, um wen es sich handelte, mit ihren Häubchen sahen sie alle gleich aus. Aber ich wusste, wer wo zu stehen hatte, schließlich hatten wir alle unseren festen Platz in der Aufstellung. Das Glückskind war die kleine süße Eleonore: Frisch verwaist, niedlich, die Wangen waren noch rosig – kein Wunder, dass sie uns bald wieder verlassen würde.
    »Hier, nimm das«, sagte der Mann, aber er würdigte das Mädchen dabei keines Blickes. Stattdessen schaute er mich an. »Und du kommst mit mir.«
    Ich sah mich sicherheitshalber zu den Seiten um. Colleen, Mildred, er musste eine der beiden meinen, denn ich hatte ihm wirklich keinen Grund gegeben, ausgerechnet mich auszuwählen. Aber er nickte und zeigte mit dem Finger auf mich. »Ja, du – beeil dich, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«
    Ich war, gelinde gesagt, überrumpelt. Etwas mehr Bedenkzeit, und ich wäre vielleicht in Panik geraten, aber ich wusste ebenso gut wie alle anderen: Wenn die Gelegenheit kam, aus St. Margaret’s herauszukommen, musste man sie beim Schopfe packen, ohne zu zögern, ohne Fragen zu stellen. Der Mann wollte mich mitnehmen – dann war ich die Letzte, sich da zu widersetzen. Ich trat aus der Reihe und blickte fragend und gleichzeitig fordernd Miss Mountford an. Jetzt war es an ihr, zu bestätigen, dass alles seine
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