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Das Netz der Schattenspiele

Titel: Das Netz der Schattenspiele
Autoren: Ralf Isau
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Sperrzone erklärt. Sie hatte kein Recht hier zu sein. Doch ihre Neugierde war längst zu einer Flutwelle angeschwollen, die derlei Bedenken einfach fortzuschwemmen drohte. Noch einmal machte der Verstand ihr die unangenehmen Konsequenzen bewusst, die mit der Verletzung von Salomons Territorium einhergehen mochten: Er wird dich zum Frühstück verspeisen, dir anschließend für ein Jahr das Taschengeld streichen, dir eine saftige Haftstrafe aufbrummen (mindestens vier Wochen Stubenarrest) und zuletzt wird er dir auch noch deinen PC wegnehmen…
    Stella hielt inne. Nein, den Computer würde er ihr lassen, schon aus rein praktischen Erwägungen. Stellas PC war Marks Notnagel – er selbst bevorzugte den Begriff Backup-Workstation. Sollten seine Chaos-Rechner jemals kollektiv die Arbeit verweigern, dann konnte er immer noch auf Stellas Computer zurückgreifen. Salomon hatte ein ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis. Diesem Umstand verdankte seine Tochter die technologisch überdurchschnittliche Ausstattung ihres mit Plüschtieren voll gestopften Jugendzimmers.
    Solange er ihr den PC ließ, war sie nicht völlig von der Welt abgeschnitten. Übers Internet konnte sie Kontakt aufnehmen, mit wem immer sie wollte. Im Moment fiel ihr nur keine Vertrauensperson ein, mit der sie ihr mögliches Los hätte teilen wollen.
    Was ist schon dabei, wenn ich mir das Spiel mal ansehe?, dachte Stella und riss damit alle Barrieren ein, die ihr Verstand errichtet hatte. Ich bringe die Disk ja zurück – das ist also kein Diebstahl. Außerdem bleibt es ja in der Familie. Niemand wird davon erfahren. Möglich, dass ich sogar den einen oder anderen Fehler im Spiel entdecke und Salomon helfen kann sein Programm zu perfektionieren. Erstaunlich, wie viele vernünftige Argumente ihr einfielen, die für ein kurzes Ausleihen des Spieles sprachen.
    Bepackt mit dem essbaren Modell des schiefen Turms von Pisa, zog sich Stella in ihr eigenes Reich zurück. Ein einziger Gedanke beherrschte sie: Kagee – Das Netz der Schattenspiele. Sie hatte so viele Andeutungen darüber gehört und so wenig erfahren. Jetzt würde sie selbst erforschen können, was sich hinter diesem geheimnisvollen Namen verbarg. Stellas Herz klopfte vor Aufregung. Ihr Mund war ganz trocken. Warum hatte sie auch vergessen, aus der Küche ein Glas Cola mitzunehmen?

 
    SALOMON
     
     
     
    Mark konnte sich überhaupt nicht konzentrieren. Wenn die Vorlesung nicht bald zu Ende ging, dann würde sich bestimmt wieder sein Körper melden, mit Hautausschlag, Fieber oder Ähnlichem. Mit seinen siebenunddreißig Jahren musste er auf diese Signale Acht geben. Zu viel Aufregung war Gift für ihn.
    Er erinnerte sich noch gut, wie Professor Landrup vor drei Jahren im Institut einen Schlaganfall erlitten hatte. Zugegeben, Landrup war damals schon einundsechzig gewesen, aber vierundzwanzig Jahre Altersunterschied sollte man nicht überbewerten. Die Welt war schnelllebig. Es konnte jeden treffen. Jederzeit. Und überall.
    Wenn er nur wüsste, ob er die Tür zum Chaos abgeschlossen hatte! Die Ungewissheit nagte an Marks Nerven. Angenommen, Sternchen – wie er seine Tochter Stella liebevoll nannte – kam mit jemandem aus ihrer Klasse nach Hause und diese Person schnüffelte in dem Büro herum! Würde vielleicht auch etwas anfassen. Möglicherweise sogar kaputtmachen…!
    »Erinnern Sie sich noch an die Herleitung dieser Formel?« Mark warf die Frage in den großen Hörsaal wie Brotkrumen auf einen Teich. Er hoffte, seine Studenten würden wie Enten danach schnappen, möglicherweise ein wenig um die richtige Lösung rangeln, damit er selbst Zeit hatte, um die Antwort auf seine eigene quälende Frage zu finden.
    Alles war drunter und drüber gegangen, nachdem ihm siedend heiß eingefallen war, was er Jürgen vor zwei Tagen hoch und heilig versprochen hatte. »Natürlich übernehme ich deine Vorlesung am Mittwoch. Kein Problem!« Nur noch schemenhaft erinnerte er sich, von seiner Workstation aufgesprungen und aus dem Haus gestürzt zu sein. Nicht einmal sechzig Minuten war das jetzt her! Irgendwie hatte er den Weg durch den Straßenverkehr zur Uni gefunden und auf irgendeine Weise hatte er mit der Vorlesung in Vertretung seines Freundes tatsächlich pünktlich begonnen. Aber in welchem Zustand mochte sich das Chaos jetzt befinden…?
    Das Audimax war der größte Hörsaal an der Technischen Universität Berlin. Wie in einem antiken Amphitheater saßen die Studenten auf ansteigenden Sitzreihen und
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