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Das mittlere Zimmer

Das mittlere Zimmer

Titel: Das mittlere Zimmer
Autoren: Inge Lempke
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frei zu geben.
    Anschließend trank man Kaffee und aß den Kuchen, den Rikes Mutter mitg ebracht hatte. Das war der erste Sonntag im neuen Haus.
    Am Montagmorgen fuhr Achim in sein Geschäft, um Sehstärken zu vermessen und Bri llen zu verkaufen. Rike holte im Gartencenter zwei Haselnussbüsche für den Garten. Abends arbeitete Achim an der Garage weiter.
    Zwei Tage später wurde der Zaun geliefert. Drei Männer betonierten Metallpfähle im B oden ein, zwischen die Maschendraht gespannt wurde. Am nächsten Tag waren die Männer immer noch mit dem Zaun beschäftigt. Es nieselte den ganzen Tag lang, so dass sich Rike mit Hannah hauptsächlich im Haus aufhielt, bügelte und Bilder an die Wände hängte.
    Am Freitagvormittag fuhr sie mit Hannah zum Einkaufen. Zu Mittag gab es nur eine Kleinigkeit. Nach dem Essen füllte sie den Geschirrspüler und machte Wasser heiß für ein paar Teile, die sie mit der Hand abwaschen wollte. Hannah saß derweil im Wohnzimmer vor dem Fernseher und sah sich Zeichentrickfilme an.
    Rike ließ heißes Wasser in eine Plastikschüssel laufen, gab Spülmittel hinzu und warf einen Blick auf die Wanduhr: kurz vor eins. Wenn sie mit dem Spülen fertig war, würde sie sich mit Hannah ein wenig aufs Ohr legen und anschließend die Fenster im oberen Stock putzen.
    Als sie eine Obstschale aus Holz ins Wasser tauchte, schwoll plötzlich ein Rauschen in ihren Ohren an, das blitzschnell alle anderen Geräusche übertönte. Ein gewalt iges, ein geradezu kreischendes Rauschen. So, als stürze im nächsten Moment ein Flugzeug auf das Haus. Gleichzeitig war ihr, als ließe jemand von oben einen milchigen Vorhang vor ihren Augen herab. Gegenstände verschwammen weißlich. Und durch ihr Gehirn schoss ein blaues, konturloses Etwas, das in ihren Verstand eindrang, ihn ausfüllte, ihn abschaltete.
     
    Rike zuckte zusammen, als unvermittelt das schwarze, bizarr verästelte Skelett einer noch unbelaubten Eiche vor ihren Augen auftauchte. Ein kaum wahrnehmbarer Geruch nach geschnittenem Gras kitzelte ihre Nase. Es dauerte Sekunden, bis sie eine Erinnerung fand. Stand sie nicht an der Spüle und sah aus dem Fenster in den Garten?
    Was war passiert?
    Ihr Blick verließ die Eiche und wanderte langsam, zeitlupenhaft abwärts, über die hellen Wandkacheln, über den blank polierten Wasserhahn, bis hinab in die Plastikschüssel, in der ihre Hände hingen, die die Holzschale hielten. Das Wasser in der Schüssel war kalt. Rike nahm Hände und Holzschale heraus und traute ihren Augen nicht: die Schale war an einigen Stellen derart aufgequollen, dass sie aussah, als hätte sie die Beulenpest. Was, um Himmelswillen, war passiert?!
    Noch eine Erinnerung quälte sich nach oben: ohrenbetäubendes Rauschen, ve rschwimmende Gegenstände, etwas Blaues, das ihr Bewusstsein von einer Sekunde zur nächsten in völlige Dunkelheit gestoßen hatte.
    Rike umklammerte die verunstaltete Holzschale. War das ein Schlaganfall gewesen?! Eine Hirnblutung?! Ein Gehirntumor?! Irgend so etwas musste es gewesen sein! Irgendeine schreckliche Krankheit hatte zugeschlagen! Sie musste sofort zum Arzt! Vielleicht konnte man ihr noch helfen!
    Plötzlich hörte sie Musik aus dem Wohnzimmer, und sofort fiel ihr Hannah ein. Wo war sie? Ging es ihr gut? Rike stellte die hölzerne Obstschale weg, trocknete sich hastig die Hände ab und warf einen Blick auf die Küchenuhr. Für einen Moment verstand sie nicht, was sie sah. Es war drei Uhr nachmittags. Aber das konnte natürlich nicht sein. Sie konnte nicht zwei Stunden bewusstlos an der Spüle gestanden haben! Nein, die Uhr ging falsch, und jetzt musste sie erst einmal nach Hannah sehen!
    Sie eilte durch den Flur ins Wohnzimmer. Im Fernseher lief Werbung. Hannah lag mit ang ezogenen Beinen auf dem Sofa und schien zu schlafen. Aber vielleicht war sie tot. Rike rechnete auf einmal mit allem. Als sie das Sofa erreichte, sah sie, dass Hannah atmete.
    Und was nun? Sollte sie sie wecken und auf schnellstem Weg einen Arzt aufsuchen? Oder sollte sie nicht lieber bei einer Tasse Kaffee in Ruhe über die Sache nachdenken? Denn e igentlich fühlte sie sich nicht krank. Überhaupt nicht. Keine Kreislaufprobleme, keine Sehstörungen, keine Lähmungserscheinungen. Körperlich fühlte sie sich so gut wie immer. Obwohl das natürlich für nichts ein Beweis war.
    Sie schaltete den Fernseher aus und tat etwas, das sie bisher vermieden hatte - sie sah auf die Pendeluhr an der Wand: 15.05 Uhr. Das kon nte einfach nicht sein!
    Rike
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