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Das Maedchen am Klavier

Das Maedchen am Klavier

Titel: Das Maedchen am Klavier
Autoren: Rosemarie Marschner
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lag hinter ihm. Er wusste nicht, welcher Geist oder Ungeist ihn schon als Kind dazu getrieben hatte, allein in der Musik sein Heil zu sehen. Sein Vater war Kaufmann gewesen, seine Mutter die Tochter eines Pastors. Man war nicht wohlhabend und wurde in den unruhigen Zeiten,als sich in Frankreich das Volk erhob und der Pulverdampf auch über die Grenze herüberwehte, noch ärmer. Ein eigenes Klavier zu besitzen wäre undenkbar gewesen. Trotzdem fühlte sich der magere kleine Junge zum Pianisten berufen. Vielleicht auch zum Sänger. So lange bettelte er, bis man ihn mit dreizehn bei den Thomanern, dem berühmtesten Chor Europas, vorsingen ließ. Doch schon während der ersten Takte wurde Friedrich Wieck so heiser, dass man ihn kopfschüttelnd unterbrach und nach Hause schickte.
    Danach lag er tagelang im Bett, gequält von unerträglichen Nervenschmerzen im Gesicht. Wie ein lästiger Reisegefährte begleiteten sie ihn auch noch durch die ersten Monate seiner Gymnasialzeit in Torgau. Sie verleideten ihm das Leben und den Umgang mit den anderen Schülern und hörten erst auf, als ihm seine verzweifelte Mutter am Ende eines mehrtägigen Besuches mitteilte, sie habe für ihn ein paar Freistunden beim Hofmechanikus Milchmeyer erwirkt. Er habe sich am nächsten Morgen schon vor dem Frühstück bei seinem Lehrer zu melden. Dieser werde sich dann noch zu Bett befinden und werde während der Lektion sein Frühstück einnehmen. Danach habe ihn Friedrich Wieck beim Aufstehen zu unterstützen, was bedeute, dass er den schwergewichtigen Lehrer unter Verwendung einer eigens konstruierten Maschinerie aus dem Bett hieven müsse. Diese schweißtreibende Hilfestellung solle als Honorar gelten.
    Nie zuvor war Friedrich Wieck so glücklich gewesen, zumal ihm seine Mutter auch noch einen Klavierersatz besorgt hatte: ein flaches Instrument, eine Art Clavichord, das auf den Tisch gelegt wurde und auf dem er nun üben konnte, so lange er wollte. Friedrich Wieck sah sich bereits als gefeierten Pianisten in den Metropolen der Welt. Doch dann zog Milchmeyer in eine andere Stadt, und Friedrich Wiecks Pläne zerrannen.
    Er wusste nicht mehr, wohin er wollte. Irgendwie war er sich selbst abhanden gekommen. Als trüge er einen fremden Körper durch eine fremde Welt, gehorchte er den Befehlen seiner Familie,die ihm sagte, was von ihm erwartet wurde. Argumente dagegen gab es nicht. Fast täglich von Gesichtsschmerzen geplagt, absolvierte er das Gymnasium und danach das Studium der Theologie, das ihn nicht zu fesseln vermochte.
    Eigentlich lebte er nur, wenn er Musik hörte. Dafür war ihm kein Opfer zu groß. Manchmal ernährte er sich wochenlang nur von Brot und Wasser, um sich nur ja kein Konzert in seiner Nähe entgehen zu lassen. Immer noch übte er täglich auf seinem Behelfsklavier. Er studierte Partituren von Haydn und Mozart, von Beethoven und Spohr und bearbeitete sie für Pianoforte. Einsame Stunden, die ihn die Unzulänglichkeit des eigenen Spiels grausam erkennen ließen und ihn zu der Überzeugung führten, dass ein Werk erst dann zum Leben erwacht, wenn der ausführende Künstler das Stadium der Virtuosität erreicht hat.
    Doch dafür war es schon zu spät. Zu spät zumindest für den jungen Friedrich Wieck, den man nicht einmal als Pfarrer haben wollte. Sein Examen war schlecht, und seine erste Predigt auf der Kanzel der Dresdner Schlosskirche noch schlechter. Dabei hatte er sich sogar unerwartet wohl gefühlt, als er mit entschlossenen Schritten auf die Kanzel zueilte und seine Tritte im weiten Raum der Kirche widerhallten. Für einen kurzen Moment dachte er, dass dies vielleicht doch seine künftige Welt werden konnte. So legte er sein Konzept entschlossen zur Seite und hielt nicht die Art von Predigt, die man ihn gelehrt hatte, sondern runzelte seine dichten Brauen und wies die Gemeinde mit strengen Worten an, wie sie zu leben habe, um Gott zu gefallen. Der Klang der eigenen Stimme riss ihn fort. Er merkte nicht, dass unten in den Bänken Unruhe aufkam und die Professoren ihm Zeichen machten, aufzuhören. Erst als die Orgel mit Macht einsetzte und ihn übertönte, erwachte er aus seiner pädagogischen Ekstase. Verwirrt hielt er inne, während die Gläubigen so inbrünstig und laut sangen wie schon lange nicht mehr. Friedrich blickte hinunter zu den Professoren, die mit den Augen rollten. Da gab er auf und stieg die Stufen hinab auf den Boden seiner realen Möglichkeiten. Als er die Kirche verließ, hallten seine Schritte nicht mehr.
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